Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin ist tot. Das zumindest vermelden russische Behörden nach dem Absturz eines Privatjets in der russischen Region Twer. Prigoschin soll sich auf dem Weg von Moskau nach St. Petersburg befunden haben, als die Maschine plötzlich senkrecht zu Boden ging. Steckt ein Mordanschlag dahinter? Ein Experte erklärt die Auswirkungen des Vorfalls.

Ein Interview

Es ist noch nicht unabhängig bestätigt, aber alles deutet darauf hin, dass Wagner-Chef Prigoschin tot ist. Er soll beim Absturz seines Privatjets ums Leben gekommen sein. Ungewöhnlich schnell hatte die russische Luftfahrtbehörde Rosawiazija die Passagierliste veröffentlicht, auf der auch Prigoschins Name stand.

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Unter den Toten sollen sich auch der Wagner-Cheflogistiker Valerij Tschekalow und der Chef seines Sicherheitsdienstes, Nikolaj Matuseew, befinden. Noch gibt es keine Erklärung, wie es zu dem Absturz kommen konnte. Beobachter sprechen von einer Bombenexplosion oder einem gezielten Abschuss durch die russische Flugabwehr. Die Tatsache, dass der Absturz auf den Tag genau zwei Monate nach Prigoschins Marsch auf Moskau erfolgte, nährt den Verdacht eines Mordkomplotts. Der Berliner Politikwissenschaftler Tobias Fella ordnet die Geschehnisse und möglichen Auswirkungen im Gespräch mit unserer Redaktion ein.

Putins Sicherung der Macht

Herr Fella, was bedeutet Prigoschins mutmaßlicher Tod für Russland?

Tobias Fella: Die Frage des Umgangs mit Leuten, die sich gegen die Elite gestellt haben, hat sich in der Geschichte immer wieder gestellt – auch beispielsweise im Römischen Reich als Feldherren und ihre militärischen Verbände versucht haben, sich an die Macht zu putschen. Wenn sie damit nicht erfolgreich waren, standen die herrschenden Eliten und der Kaiser vor der Entscheidung: Was machen wir mit diesen Personen? Wer kann in bestehende Machtstrukturen integriert werden, bei wem reicht die Verbannung in weniger wichtige und von den Zentren der Macht entferntere Regionen aus? Wer muss ausgeschaltet werden? Auch Putin hat sich diesen Fragen gestellt. Es gehört viel Spekulation dazu, aber Putin wird sich auch gefragt haben: Wie kam die Meuterei von Prigoschin in der Bevölkerung, bei den Eliten, in der Welt an? Was mache ich mit Wagner? Wie kann ich meine Macht sichern?

Und die Antwort war dann die Ermordung?

Ja, der Tod von Prigoschin könnte – sofern es ein Anschlag war – ein Indiz sein für Lehren, die der Kreml aus der Meuterei von Juni und ihren Vorgeschehnissen gezogen hat. Auch in Rom war die Ermordung von sogenannten Usurpatoren die Norm, ihr Vergehen und der entstandene Schaden für den Kaiser viel zu groß, um eine andere Lösung zu finden. Diese Lehren setzt er jetzt schrittweise um und beobachtet, welche Gegenreaktionen es beispielsweise von der Opposition im Inland sowie im Sicherheits- und Militärapparat gibt. Man wird versuchen, sorgsam vorzugehen, um einen Kontrollverlust zu vermeiden. Dabei aber gleichzeitig auch auf den Faktor einer gewissen Unberechenbarkeit setzen, damit seine Gegner sich nicht in Sicherheit wiegen können. Davon soll sicher auch ein Signal an den Westen und die Ukraine gehen, wonach Putin bereit ist, weiter an der Eskalationsschraube zu drehen.

Welche Lehren sind das?

Eine Lehre könnte sein, dass Putin die Auslagerung staatlicher Gewalt, wie es mit den Wagner-Truppen geschehen ist, zurückdrehen oder mindestens besser managen möchte. Sollte der Tod Prigoschins und weiterer Wagner-Führungskräfte auf Befehl oder unter Billigung Putins geschehen sein, wäre das ein starkes Indiz dafür. Nach verbreiteter Lesart ist Prigoschins Revolte auch deshalb geschehen, weil es Pläne zur Eingliederung der Wagner-Truppen in die russische Armee gab und Prigoschin daraufhin zu hoch gepokert und Putins Kompromissbereitschaft überschätzt hat. Dafür hat er jetzt die Quittung erhalten. Putin muss gespürt haben, wie heikel das Outsourcing staatlicher Gewalt für ihn ist – spätestens als durch die Revolte das staatliche Gewaltmonopol ein Stück weit zerrüttet wurde.

Gibt es weitere Lehren?

Eine weitere Lehre könnte darin liegen, für mehr Kontrolle, Homogenität und Kohärenz im russischen Machtapparat zu sorgen. Es geht dabei darum, nicht nur liberale Kritiker, sondern auch ausgewählte nationalistische Kräfte auf Linie zu bringen oder aus der Öffentlichkeit zu verdrängen, etwa durch Haft oder Mord.

Gibt es dafür bereits Beispiele?

Vor Kurzem wurde zum Beispiel der ehemalige FSB-Offizier, Nationalist und Kriegsblogger Igor Girkin, Kampfname Strelkow, inhaftiert. Er hat von rechts die russische Kriegsführung in der Ukraine kritisiert, als zu wenig energisch und zielführend. Es stellt sich auch die Frage, ob es bloß Zufall gewesen ist, dass Sergej Surowikin, Chef der russischen Luft- und Raumfahrttruppen, genau am Tag des Absturzes formell von seinem Posten abgelöst worden ist. Er soll vorab von dem Aufstand der Wagner-Truppen gewusst haben.

Das Ende der "Marke Wagner"

Was bedeutet Prigoschins Tod für die Organisation Wagner?

Der russische Staat oder ihm nahestehende Organisationen haben Wagner in der Vergangenheit mittelbar oder unmittelbar gefördert – sei es durch das staatliche Fernsehen oder Werbeanzeigen. Nun war für den Kreml aber anscheinend eine zu starke "Marke Wagner" oder "Marke Prigoschin" entstanden. Prigoschin hat sich erfolgreich als populistische, volksnahe Marke inszeniert und ist damit in Konkurrenz zu den russischen Streitkräften und russischen Politikern getreten. Die "Big Brand"-Ära von Wagner ist nun mit seinem Tod vorbei. Es kann gut sein, dass der Einfluss weiter schwinden wird und das Schicksal der Organisation mehr oder minder besiegelt wird.

Der Untergang von Wagner also?

Für Wagner als umfassende Organisation allem Anschein nach ja. Es kann aber gut sein, dass der Bedarf nach Organisationen wie Wagner für den russischen Staat bestehen bleibt. Diese können nützlich sein für die russische Außenpolitik. Sie sind ein hilfreiches Instrument, um Kreml-Interessen durchzusetzen, ohne dass es eine direkte Linie zum Kreml gibt.

Inwiefern?

Man kann sich von Aktionen von Gruppen wie Wagner besser abgrenzen. Private oder halbstaatliche Kräfte sind etwa in Afrika den dortigen Regierungen mitunter auch besser zu vermitteln als reguläre russische Kräfte. Sie sehen nicht nach Kolonialisierung, Besatzung und Okkupation aus. Wagner hatte außerdem eine enorme psychologische Wirkung und hat bei Gegnern Angst und Schrecken verbreitet. Ihnen wurde deshalb eine gewisse Kampfkraft zugeschrieben. Es muss also nicht sein, dass das Modell Wagner ausgedient hat.

Wovon hängt das ab?

Putin wird sich die Frage stellen, in welchen Regionen er militärisch auf wagnerähnliche Organisationen setzen kann und wo es politisch verantwortbar ist, dass seine eigene Macht dadurch nicht gefährdet wird. Putins Schicksal ist weiterhin aber vorrangig an den Ausgang des Ukrainekriegs gebunden. Er hat im Februar 2022 gewissermaßen einen Einzelfahrtschein gelöst.

Einen Einzelfahrschein wohin?

In die Richtung, dass eine imperiale Welt wieder auferstehen soll. Es bleibt schwer, einen Rückfahrtschein zu lösen – ob Prigoschin nun tot ist oder nicht. Die größte Gefahr für Putin kommt derzeit vermutlich nicht von der liberalen Opposition und der russischen Straße, sondern von Teilen der Elite und Situationen mit hoher Eigendynamik. Die Elite wägt dabei vermutlich ihre eigenen Risiken, Chancen und Gefahren innerhalb des Systems Putins ab.

Was heißt das?

Wenn es ein Mord an Prigoschin war, ist das ein deutliches Signal, was passiert, wenn man sich gegen Putin auflehnt. Die Ermordung von jemandem mit einer solchen Bekanntheit ist ein klares Signal der Bereitschaft zu Gewalt nach innen, ein Signal, dass jetzt mit großer Härte aufgeräumt und ausgekehrt wird. Ein lebendiger Prigoschin hat allein durch seine Existenz und sein Auftreten eine Demütigung für Putin und seine Regierung dargestellt.

"Prigoschin wäre lebendig immer ein Problem gewesen"

Das heißt Prigoschins Tod stabilisiert Putin nun?

Wir sehen durch die Aktion vermutlich zumindest kurzfristig keine Schwächung Putins. Langfristig muss man sehen, wie sich die Vergeltung auf die russischen Eliten auswirkt. Es kann sie in ihrer Entscheidungs- und Innovationsfähigkeit hemmen, wenn sie immer wissen, dass ihnen das Damoklesschwert droht. Prigoschin wäre lebendig immer ein Problem gewesen. Dass es überhaupt zu seiner Tötung kommen musste, ist kein Ausdruck von Macht. Sie nimmt dem Kreml vielmehr zunehmend die Möglichkeit, Russland als normales Land zu inszenieren und das kann Konsequenzen haben, auch was die eigene Legitimität angeht.

Sieht das auch die russische Bevölkerung so?

Das Bild ist komplex. Es gibt weiter eine echte Unterstützung für Putin im Land. Allerdings auch genügend Frustration gegenüber der Kompetenz der eigenen Regierung und ein hohes Maß an Lethargie in der russischen Gesellschaft. Es lässt sich aber sagen, dass Prigoschin das Land durch seine Meuterei in Kriegszeiten unnötig geschwächt hat, den Bogen also überspannt hat. Alles Weitere wird unter anderem davon abhängen, wie sich die wirtschaftliche Lage und die Lage an der Front entwickelt. Auch der russische Staat basiert zu einem Grad auf Vertrauen in die Wirksamkeit und Kompetenz der eigenen Regierung. Mit Gewalt alleine ist auf Dauer kein stabiles System zu machen.

Was bedeutet der Tod des Wagner-Chefs nun für den Krieg in der Ukraine?

Prigoschin war nur ein Mann und Wagner nur eine Organisation im größeren System. Der Krieg ist weiterhin für Putin ein persönliches Projekt von historischer Tragweite. Er konnte bisher schon lange geführt werden. Das russische Militär hat dazugelernt, es hält Territorium auch ohne eine zentrale Rolle von Wagner. Außerdem muss man sehen: Die Aktion passierte inmitten der ukrainischen Gegenoffensiven.

Was bedeutet das?

Wenn der Kreml die Ermordung Prigoschins in Auftrag gegeben hat, würde das auch zeigen, dass er angenommen hat, dass die Gegenreaktionen nicht so ausfallen werden, dass in irgendeiner Form die russische Verteidigungsfähigkeit in der Ukraine gefährdet ist. Der Kreml ist daraus geschlossen vermutlich also gar nicht so unzufrieden mit der derzeitigen russischen Abwehr der ukrainischen Offensive. Er zeigt der eigenen Bevölkerung und Elite ebenso wie dem Westen und der Ukraine, dass mit ihm zu rechnen ist.

Zur Person: Dr. Tobias Fella ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedens- und Sicherheitsforschung an der Universität Hamburg (IFSH). Er forscht zu Großmachtbeziehungen im Kontext des Ukrainekriegs.
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