Auch wenn auf der Südfront in der Ukraine derzeit nicht der Hauptfokus liegt: Beschuss gibt es hier weiterhin täglich. Könnten eine neue Lieferung durch Großbritannien und ein möglicher russischer Kurswechsel die Lage entschärfen? Militärexperte Wolfgang Richter mahnt zur Vorsicht: "Es gibt zu viele unsinnige Informationen."

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3. Mai, 6 Uhr: Cherson, Kizomys, Stanislav und elf weitere Dörfer – russische Truppen beschossen Wohngebiete der Region. Unter anderem wurden zwei mehrstöckige Gebäude und zehn Privathäuser, Bildungseinrichtungen und eine Gasleitung beschädigt. Eine Person verletzt.

4. Mai, 6 Uhr: Cherson, Antoniwka, Zmijiwka und 15 weitere Dörfer – russischen Truppen beschossen Wohngebiete und beschädigten dabei zehn Privathäuser. Eine Schule, ein Monument, ein Mobilfunkturm und Privatautos wurden getroffen. Keine zivilen Opfer.

Die Update-Liste von Olexandr Prokudin, Gouverneur der Oblast Cherson, könnte gefühlt endlos weitergeführt werden. Täglich werden die Stadt und die umliegenden Dörfer beschossen, oft gibt es zivile Opfer.

Zieht Russland bald Soldaten ab?

Auch wenn die russischen Truppen ihren Fokus derzeit auf die Ostfront etwa bei der Kleinstadt Tschassiw Jar legen, reißen die Kämpfe in anderen Gebieten nicht ab. Die Region um die im Jahr 2022 befreite Stadt Cherson steht unter ständigem Beschuss. Doch möglicherweise könnte eine russische Entscheidung dort bald für Entspannung sorgen.

Unbestätigten Angaben eines russischen Militärbloggers von Ende April zufolge, hat der Generalstab der Streitkräfte der Russischen Föderation damit begonnen, "die kampfbereitesten Einheiten der Divisionen der Luftlandetruppen aus dem Dnepr abzuziehen". Der US-amerikanische Thinktank "Institute for The Study of War" geht in seinem Update vom 1. Mai auf diese Behauptung ein, sagt aber, dass es bisher keine Belege für eine Truppenverlegung gebe. Dennoch seien solche russischen und ukrainischen Berichte bedeutsam, etwaige Verlegungen will man in den kommenden Tagen genauer untersuchen.

Zehn Kilometer zu Fuß: 97-jährige Ukrainerin flieht von der Front

Die 97-jährige Ukrainerin Lydia Lominowska ist zehn Kilometer zu Fuß gegangen, um den russischen Angriffen zu entkommen. Ihr Heimatdorf in der ukrainischen Region Donezk steht unter Beschuss durch die russische Armee.

Grundsätzlich, sagt der Militärexperte Wolfgang Richter im Gespräch mit unserer Redaktion, müsse man bei Analysen von Militärbloggern vorsichtig sein. "Es gibt zu viele unsinnige Informationen, die im Netz kursieren, die teilweise bewusst eingesetzt werden, um die andere Seite in die Irre zu führen." Allerdings ist es auch nicht das erste Mal, dass solche russischen Blogger Recht behalten. Für den hypothetischen Fall, dass dies auch hier zutrifft, meint Richter, hieße das, dass einige russische Reserven dort nicht gebraucht würden, weil man sich dort ohnehin stark fühle und auch die Ukrainer angesichts des Personalmangels gezwungen seien, ihre Kräfte im Osten zu verstärken. "Anscheinend planen die Russen im Moment nicht, über den Dnepr nach Westen überzusetzen", erklärt der Experte und fügt an: "Wenn diese Nachricht keine Finte ist."

Gefechte um Inseln im Dnepr-Delta

An der südlichen Dnepr-Front bedeutete dies, dass sich die operative Lage kurzfristig nicht ändern wird, meint der Experte weiter. "Das heißt nicht, dass es keine kleineren Gefechte gibt, dass man nicht versucht, hier und da mal über den Fluss zu kommen mit Aufklärungstrupps." Das zeigen auch Entwicklungen bezüglich kleinerer Inseln im Delta an der Dnepr-Mündung südlich von Cherson, die laut Richter immer mal wieder den Besitzer wechseln. Erst kürzlich konnte die Ukraine eine dieser kleinen Inseln für sich gewinnen. "Dabei handelt es sich um überraschende und häufig verdeckte Spezialoperationen, die der Aufklärung und Kontrolle des Deltas dienen", sagt Richter weiter.

Zum Gesprächspartner:

  • Wolfgang Richter ist Oberst a. D., war leitender Militärberater in den deutschen UN- und OSZE-Vertretungen und arbeitet jetzt als Associate Fellow beim Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (GCSP) sowie als Senior Advisor beim Austrian Institute for European and Security Policy.
  • Von 2010 bis 2022 war er Senior Associate bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.
  • Seine Forschungsgebiete umfassen die europäische Sicherheitsordnung einschließlich der Rolle der OSZE, die Beziehungen zwischen der NATO und Russland, Territorialkonflikte, konventionelle und nukleare Rüstungskontrolle sowie militärische Strategien.

Habe man diese unter Kontrolle, könne man das Küstengebiet besser überwachen, mögliche Landungen abwehren und Exportwege offenhalten. "Aber auch als Ausgangsbasen für überraschende Seeoperationen haben sie eine gewisse, wenn auch begrenzte Bedeutung." Für die größere operative Lageentwicklung hätten sie keine Bedeutung. Und deshalb, sagt Richter, würden die militärischen Aktivitäten am Dnepr-Delta in der Berichterstattung meist nicht wahrgenommen.

Um unter anderem die ukrainischen Truppen an der Südfront weiter zu unterstützen, hat die britische Regierung kürzlich das bisher größte Hilfspaket seit Beginn des Krieges geschnürt. Darunter sind neben Hunderten Fahrzeugen, mehr als 1.600 Raketen und Millionen Schuss Munition auch 60 bisher nicht näher definierte Boote. Das könnten laut Richter Angriffs- und Tauchboote sein, darunter möglicherweise auch Sturm- oder Landungsboote. Sie alle werden größtenteils von Pionier-, Marineinfanterie- und Landungstruppen sowie von Spezialkräften genutzt. Auch unbemannte Boote, die Häfen oder Schiffe angreifen könnten, wären denkbar, meint der Experte.

Großbritannien im Bündnis mit Polen und der Ukraine

Schon früher hätten die Ukrainer öfter der russischen Flotte durch unbemannte Boote, also Seedrohnen, geschadet. Oder auch bei Angriffen auf die Brücke von Kertsch oder den Hafen von Noworossisk. Vieles sei möglich, gewiss aber nichts. Was klar ist: Die Boote werden an der Südfront zum Einsatz kommen.

Großbritannien hat sich in der Vergangenheit verpflichtet, der Ukraine beim Marinegerät zu helfen – die jetzige Ankündigung ist Richter zufolge wohl ein Teil davon. Am 17. Februar 2022 – also noch vor der Invasion – hatte Großbritannien mit Polen und der Ukraine ein militärisches Kooperationsbündnis verkündet. Initiiert wurde der Pakt "zur Stärkung des Sicherheitsgürtels und der Achse Ostsee-Schwarzes Meer" bereits im Oktober 2021.

Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass Marinegeschütze geliefert werden sollen, meint Richter. "Sie könnten für zwei Optionen genutzt werden: Zum einen den Küstenschutz, zum anderen könnten sie auf Patrouillenbooten zum Einsatz kommen." Eine eigene kampf- und hochseefähige Flotte könne die Ukraine nicht aufbauen. "Dazu ist sie nicht in der Lage."

Unterdessen gibt es immer wieder Erfolgsmeldungen aus dem Schwarzen Meer, wenn etwa wieder ein russisches Kampfschiff getroffen wird – wie etwa vor rund zwei Wochen auf der Krim. Laut Richter hat die Ukraine erfolgreich etwa 30 Prozent der russischen Schwarzmeerflotte beschädigt oder versenkt, hauptsächlich durch den Einsatz von unbemannten See- und Luftdrohnen. Dies zwang die russische Flotte dazu, sich aus dem westlichen Teil des Schwarzen Meeres zurückzuziehen und ihre Aktivitäten auf den Osten zu konzentrieren. Dadurch konnte die Ukraine in Zusammenarbeit mit anderen Ländern den Seekorridor entlang der Westküste für den Getreideexport wieder öffnen.

Druck auf den Osten wächst

Obwohl dies die Bewegungsfreiheit der Ukraine etwas erhöhe, bleibe die Bedrohung durch Raketenangriffe aus dem östlichen Schwarzmeer und dem Asowschen Meer bestehen. Zusätzlich habe der Erfolg gegen die russische Flotte wenig Einfluss auf die Verteidigung gegen Landoperationen, die sich weiterhin intensivieren, insbesondere im Osten des Landes.

"Wir sehen ja den großen Druck im Osten, wo die Russen in den letzten Wochen nordwestlich von Awdijiwka und westlich von Bachmut Geländegewinne in einer Breite und Tiefe von etwa 20 bis 30 Kilometern gemacht haben", erklärt Richter. Das Ziel sei klar: "Moskau will die administrativen Grenzen des Gebiets Donezk erreichen und wahrscheinlich auch bis nach Kramatorsk und Slowjansk vordringen." Kramatorsk als Hauptquartier der ukrainischen Ostgruppe sei ein entscheidendes operatives Ziel.

Demnach sind weiterhin militärische Hilfen notwendig – auch an der südlichen Cherson-Front. Ohne eine eigene Flotte seien die einzigen Mittel Drohnen, Marschflugkörper und Raketen, um russische Flottenkräfte anzugreifen. Damit konnte die Ukraine bisher gut punkten. Doch Richter sagt auch: "Wie das immer so im Krieg ist: Je länger er dauert, desto besser passen sich die Kriegsgegner an. Man lernt aus den Fehlern und man hat von russischer Seite mittlerweile eine relativ gute Drohnenabwehr eingerichtet."

Zwar könne nicht ausgeschlossen werden, dass die großen spektakulären Erfolge im Einzelfall noch einmal auftreten könnten, aber die Gesamtlage dürfte dies nicht verändern.

Verwendete Quellen:

Selenskyj

Selenskyj bittet Westen um weiteren Nachschub an Waffen

Der ukrainische Präsident Wolodymr Selenskyj hat nach einem Treffen mit Nato-Chef Jens Stoltenberg in Kiew an den Westen appelliert, rasch mit dem Nachschub von Waffen an sein Land zu beginnen.
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