- Die Krise in der Ukraine weckt auch in den baltischen Staaten die Angst vor dem übermächtigen Nachbarn Russland.
- Ist diese Angst berechtigt - und wie konkret ist die Gefahr durch Russland wirklich?
- Ein Experte zeigt mögliche Szenarien auf.
Wenn sich die Lage an der russisch-ukrainischen Grenze weiter zuspitzt, schauen auch die baltischen Staaten ganz genau hin. In Estland, Lettland und Litauen steigt die Angst vor der Aggression Russlands. Die geht zum einen auf die geschichtliche Erfahrung der Annexion durch die Sowjetunion im Jahr 1940 zurück. Doch auch das aktuelle Gebaren des großen Nachbarn sorgt für erhöhte Wachsamkeit.
"Russland hat in den letzten Jahren gezeigt, dass es in der Lage und auch willens ist, seine Nachbarn unter Druck zu setzen und seine Interessen auch unter Einsatz von Gewalt durchzusetzen", sagt Kai-Olaf Lang, Baltikum-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. "Die baltischen Staaten sind daher wachsam, denn sie haben ihre eigene Geschichte vor Augen und sie sehen sich spätestens seit der Annexion der Krim und den Ereignissen in der Ostukraine in ihrer pessimistischen Einschätzung bestätigt."
Litauen, Estland und Lettland: Wie konkret ist die Gefahr durch Russland?
Doch wie realistisch ist diese Einschätzung überhaupt? Eine große russische Invasion hält Lang jedenfalls für unwahrscheinlich. "Die Kosten, die Russland zu zahlen hätte, wären immens. Außerdem sind die baltischen Staaten nicht die Ukraine – sie spielen geostrategisch und vor allem identitätspolitisch für Russland eine ganz andere Rolle."
Doch die Mitgliedschaft der drei Staaten Estland, Lettland und Litauen in der EU und vor allem in der NATO ist Russland schon lange ein Dorn im Auge. Denn durch den Beitritt der baltischen Staaten ist die NATO bis an die russische Grenze gerückt.
Allerdings sind die drei Länder geopolitisch exponiert. Die Landverbindung zur NATO besteht nur aus einem kleinen Streifen Grenze zwischen Litauen und Polen. Und diese Verbindung könnte über Belarus und die russische Exklave Kaliningrad schnell abgeriegelt werden, wie Lang betont: "Russlands Luftabwehrsysteme und andere militärische Fähigkeiten könnten im Ernstfall die Zuführung von Verstärkungen aus der NATO erschweren."
Hackerangriffe, Desinformation – ein breites Spektrum an Aggressionsszenarien
Dann könnte jedoch der Bündnisfall eintreten. "Wenn die territoriale Integrität eines der drei Staaten verletzt würde, könnte die NATO nicht passiv bleiben", sagt Kai-Olaf Lang. "Neben politischen und wirtschaftlichen Sanktionen käme es möglicherweise zur Ausrufung des Bündnisfalls. Was dies konkret hieße, hinge aber sicherlich auch vom konkreten Szenario ab." Vieles hinge auch davon ab, ob die in den drei Ländern stationierten NATO-Truppen in Kampfhandlungen verwickelt würden, erklärt Lang.
Allerdings bietet das Spektrum der möglichen Szenarien heutzutage viel mehr als klassische Kampfhandlungen. Lang nennt Beispiele wie Hackerangriffe, Hilfskonvois für Landsleute, Desinformation und das Zusammenspiel unterschiedlicher Maßnahmen.
"Die Migrationsströme von Menschen aus dem Nahen Osten, Afghanistan oder Afrika, die seit letztem Jahr offensichtlich mit Unterstützung der Machthaber in Minsk an die Grenzen zu Litauen, Lettland und Polen gelangten, wurden als ‘hybrider Angriff‘ gewertet", ergänzt Lang. Ziel solcher hybriden Angriffe ist es, Gesellschaften zu destabilisieren und den öffentlichen Diskurs zu beeinflussen.
Baltische Staaten fordern Aus für Nord Stream 2
Eine vorausschauende Sicherheitspolitik plane immer mit möglichst vielen Szenarien, sagt Lang. Das gelte gerade auch für die baltischen Staaten. "Sie wissen, dass sie in unterschiedlichen Bereichen verwundbar sind und dass Russland – wie auch dessen Verbündeter Belarus – sehr ‘kreativ‘ sein können, wenn es darum geht, die Nachbarländer zu destabilisieren."
Deshalb appellieren die Regierungen von Estland, Lettland und Litauen seit Wochen, härter gegen Russland vorzugehen. Dazu gehöre auch das Aus für die umstrittene Pipeline Nord Stream 2. Bei einem Treffen mit der estnischen Regierungschefin Kaja Kallas, dem lettischen Amtskollegen Krisjanis Karins und dem litauischen Präsidenten Gitanas Nauseda versicherte Bundeskanzler Olaf Scholz, die Sorgen der Verbündeten sehr ernst zu nehmen.
"Es geht sicherlich darum, dass Deutschland eine weitere Verstärkung der NATO-Ostflanke unterstützt, so dass die drei Länder, aber auch andere Allianzmitglieder effektiv verteidigt werden können", kommentiert Kai-Olaf Lang. "Die Aufstockung des Kontingents der Bundeswehr um 350 Soldaten ist ein Schritt, der in diese Richtung geht, aber natürlich wünscht man sich mehr."
Und das ist nur ein Zeichen dafür, dass die Bedrohung durch Russland wohl weiterhin im Bewusstsein der Balten verankert bleibt.
Verwendete Quellen:
- Interview mit Kai-Olaf Lang
- Handelsblatt.com: Die Furcht ist zurück: Baltische Länder fordern stärkere Nato-Präsenz
- deutschlandfunkkultur.de: "Die Angst kommt ja nicht von ungefähr"
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