• Die angespannte Lage mit Russlands Truppenaufmarsch an den Grenzen der Ukraine hält an.
  • Derweil streiten Wladimir Putins westliche Gegenspieler um die Gas-Pipeline Nord Stream 2.
  • Was will Russland, was wollen die USA, was steht für Deutschland auf dem Spiel?

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Was ist Nord Stream?

So werden zwei rund 1.200 km lange Pipelines bezeichnet, die russisches Gas nach Deutschland transportieren. Nord Stream 1 ist seit 2011 in Betrieb. Ende 2021 wurde Nord Stream 2 fertiggestellt.

Bisher fließt noch kein Gas durch die neue Leitung, weil wichtige Zertifikate für die Zulassung fehlen. Die Nord Stream Pipelines können jeweils bis zu 55 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr liefern – genug, um jeweils 26 Millionen europäische Haushalte zu versorgen.

Die investierten acht Milliarden Euro für Nord Stream 2 könnten sich für alle Beteiligten lohnen: Russland spart teure Transitgebühren, die bei auf dem Land verlegten Trassen fällig werden, und erhöht so seinen Profit. Die Abnehmer erhoffen sich fallende oder wenigstens konstante Gaspreise.

Was hat Nord Stream mit der Ukraine zu tun?

Eigentlich nichts, weil die Pipelines nicht durch ukrainisches Territorium verlaufen. Doch genau dies ist das Politikum an den Röhren: Sie verringern Russlands Abhängigkeit von anderen Pipelines, die über Land verlaufen - auch durch die Ukraine.

So verliert etwa die Ukraine Milliarden Euro an Transitgebühren. Während die Ukraine früher Russland damit drohen konnte, den Gasdurchfluss zu stoppen, kann nun Russland auf Knopfdruck der Ukraine die Energieversorgung abstellen.

Wie wichtig ist Nord Stream 2 für Deutschland?

Um die Energielücke zu schließen, die in Deutschland durch steigenden Bedarf, aber auch wegen der Abschaltung von Atom- und bald auch Kohlekraftwerken entsteht, braucht es Ersatz.

Steigende Gaspreise wären mit zusätzlichen Lieferungen aus Russland leichter konstant zu halten. Kerstin Andreae, Vorsitzende des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), betont, Nord Stream 2 sei "weniger in punkto Versorgungssicherheit relevant", die Leitung würde eher das Preisniveau positiv beeinflussen.

Zwar könnte Nord Stream 2 die deutsche Abhängigkeit von russischem Gas erhöhen – schon jetzt liefert Russland den größten und kontinuierlich wachsenden Teil des bei uns verbrauchten Erdgases.

Legt man allerdings den derzeitigen Verbrauch zugrunde, schrumpft die Bedeutung der neuen Pipeline: Nicht einmal die Kapazitäten von Nord Stream 1 würden momentan ausgereizt, sagt Sarah Pagung, Russland-Expertin bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP): "Knappheit gibt es nur, weil Russland die vorhandenen Kapazitäten nicht nutzt."

Was kritisieren die USA an Nord Stream 2?

Dass die USA auch gerne mehr eigenes Gas nach Europa verkaufen würden, ist nur ein Nebenaspekt der Auseinandersetzung. Denn sie sehen in Nord Stream 2 die Gefahr einer wachsenden deutschen Energie-Abhängigkeit von Russland und beurteilen die Pipeline ähnlich wie die Ukraine als "politisches Projekt", dazu ausersehen, die osteuropäischen Transitländern aus dem Geschäft mit Erdgas auszuschließen und mit Lieferstopps erpressbar zu machen.

Kann Russland uns "den Gashahn zudrehen"?

Das tut Russland bereits. Zwar hält das Land seine Verpflichtungen ein, aber der Energiekonzern Gazprom verknappt schon länger seine Lieferungen nach Europa.

"Andere Pipelines wie 'Jamal' und 'Druschba'", sagt Sarah Pagung, "liefern zurzeit auf einem historisch niedrigen Niveau", Gasknappheit und steigende Preise seien auch auf die "fehlende Lieferbereitschaft Russlands" zurückzuführen. Das zeigt sich auch daran, dass Russland kaum mehr kurzfristige Lieferungen anbietet.

Fraglich ist allerdings, wie lange Wladimir Putin eine solche Politik durchhalten kann. Denn auch Russland ist abhängig: Geschätzte zwei Millionen Arbeitsplätze hängen am Gas, zusammen mit dem Ölexport finanziert es fast 40 Prozent des Staatshaushaltes. "Russland kann kein Interesse daran haben, Lieferungen zu unterbrechen", sagt Kerstin Andreae, denn "wer nichts liefert, erhält auch kein Geld."

Und Gas ist das einzige Druckmittel, das Putin gegen Deutschland in der Hand hat. "Russlands Rolle für den deutschen Handel wird stark überschätzt", gibt die Expertin Pagung zu bedenken. Der russische Anteil mache nur zwei Prozent des deutschen Handelsumsatzes aus und entspreche damit gerade mal dem von Tschechien. Ihre Folgerung: "Der Preis eines Gas-Boykotts gegen Deutschland wäre für Russland sehr, sehr hoch." Russland habe allerdings gezeigt, "dass es auch bereit ist, hohe wirtschaftlichen Preise für politische Ziele zu zahlen".

Wird bei einer Lieferunterbrechung Gas in Deutschland knapp?

Nur gut fünf Prozent des deutschen Erdgasverbrauchs stammen aus eigener Förderung, elf Prozent kommen aus Norwegen, 21 aus den Niederlanden – 67 Prozent aber liefert Russland. Zwar gibt es in Deutschland große Gasspeicher, in denen etwa ein Viertel des Jahresverbrauchs gelagert werden kann. Doch einige dieser Speicher gehören Gazprom und sind nicht gut gefüllt. Im Falle eines kompletten russischen Boykotts würde Gas tatsächlich knapp.

Was bedeutet das für die Verbraucher?

Nach Zahlen des BDEW wird die Hälfte aller deutschen Wohnungen mit Gas beheizt. Schon derzeit stellt der Gaspreis nahezu täglich neue Rekorde auf, müssen die Verbraucher mit deutlich höheren Energiekosten rechnen.

Der Preis wird aber nicht von realer Knappheit getrieben, sondern auch von der Angst vor dieser Knappheit. Wie er sich in den kommenden Wochen weiter entwickeln wird, können selbst Experten nicht sagen. Entscheidend wird zunächst sein, ob die Beteiligten eine friedliche Lösung für den Ukraine-Konflikt finden. Sollte Wladimir Putin tatsächlich einmarschieren, könnte das zu weiteren Preissprüngen führen.

Wie kann die Regierung gegensteuern?

Europa könne "auf einen sehr breiten Liefermix bauen", Gas komme schon jetzt "quasi aus allen Himmelsrichtungen nach Europa", betont der BDEW. So könnten sich russische Erpressungsversuche auch in anderer Richtung auswirken: Lieferländer wie Katar könnten neu ins Spiel kommen, andere könnten ihre Kapazitäten erhöhen, der Ausbau regenerativer Energien könnte sich beschleunigen, Deutschland könnte Terminals für Flüssiggas bauen und damit andere Formen der Gaslieferung ermöglichen.

Über die Expertinnen:
Die Russland-Expertin Sarah Pagung arbeitet für die Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), im Bereich International Ordnung und Demokratie.
Kerstin Andreae ist Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung beim Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Ihre Stellungnahme liegt unserer Redaktion als Mail vor.
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