Die ukrainische Armee versucht händeringend, weitere Soldaten zu rekrutieren. Laut offiziellen Schätzungen leben allein in Deutschland rund 200.000 Ukrainer im wehrfähigen Alter. Ein neues Gesetz in der Ukraine könnte sie auch hierzulande betreffen. Ein Kriegsdienstverweigerer erklärt, warum er nicht bereit ist, zu kämpfen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Der Ukraine mangelt es an Soldaten. Bis zu 500.000 sollen es sein, die die ukrainische Armee laut Wolodymyr Selenskyj benötigt, um sich weiter gegen die russische Armee wehren zu können. Erhebliche Kämpfe finden derzeit vor allem in der Nähe von Donzek, Orichiw, Bachmut und Sjewjerodonezk statt.

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Wie viele Soldaten an der Front kämpfen, wie viele verletzt und getötet wurden, ist streng geheim. Sowohl Russland als auch die Ukraine wollen die Kosten des Krieges verschleiern – damit der Rückhalt in der Bevölkerung nicht schwindet. Denn der ist auf beiden Seiten der Front zunehmend geschwunden. Laut westlichen Diensten sind mindestens 100.000 ukrainische Soldaten gefallen.

Selenskyj spricht von heikler Frage

Eine laut "Redaktionsnetzwerk Deutschland" ("RND") "sehr heikle" und "sensible" Frage nennt Selenskyj die Rekrutierungsfrage deshalb. Mehrfach hat er nachgeschärft: Die Grenzen für Einberufungsalter aufgeweicht, Grenzkontrollen verschärft oder angeordnet, dass auch Männer mit leichten Krankheiten und geringfügigen motorischen Störungen eingezogen werden.

Zuletzt machte die Nachricht die Runde, die Ukraine wolle auch im Ausland lebende wehrfähige Männer zum Wehrdienst auffordern. Sie sollten sich in den Rekrutierungszentren der Streitkräfte melden, sonst würden Strafen drohen. Später behauptete Verteidigungsminister Rustem Umjerow, seine Aussagen seien falsch interpretiert worden.

Regeln erneut verschärft

Ende Dezember aber wurde dem ukrainischen Parlament ein Gesetzentwurf zur Mobilisierung vorgelegt, wonach das Wehrpflichtalter von 27 auf 25 abgesenkt werden soll. Der Entwurf sieht auch vor, einen Grundwehrdienst für Bürger unter 25 Jahren einzuführen, der bis zu fünf Monate dauert.

Außerdem sollen Musterungs- und Einberufungsbescheide in Zukunft auch unabhängig vom realen Aufenthaltsort elektronisch zugestellt werden – also theoretisch auch im Ausland. Wer sich nicht in den Rekrutierungsbüros meldet, soll in das ukrainische Schuldnerregister aufgenommen werden. Die Betroffenen können dann zum Beispiel keine Kredite aufnehmen, ins Ausland zu reisen oder staatliche Leistungen beanspruchen. Diejenigen, die bereits als wehrunfähig eingestuft wurden, sollen sich einer neuen Prüfung unterziehen.

Schätzungen: 200.000 wehrfähige ukrainische Männer in Deutschland

Schätzungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (PDF) zufolge leben derzeit fast 200.000 ukrainische Männer im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren in Deutschland. In der EU insgesamt belaufen sich die Schätzungen laut "RND" auf 650.000 Männer. Manche von ihnen sind noch vor dem Krieg legal ausgereist, andere geflüchtet, wieder andere haben sich ein Attest besorgt, dass sie nicht kriegsfähig sind oder Angehörige pflegen müssen. Im August ließ Selenskyj alle regionalen Rekrutierungschefs aufgrund von Korruptionsvorwürfen entlassen.

Einer der wehrfähigen ukrainischen Männer in Deutschland ist Maxym Boyko. Seinen echten Namen möchte der 46-Jährige nicht nennen – zu groß ist die Sorge, es könne Nachteile für seine Familie haben. Nicht alle seiner Bekannten sind mit Maxyms Entscheidung einverstanden, nicht in der Ukraine zu dienen.

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Gegenwind für Kriegsdienstverweigerer

Auch in der Öffentlichkeit erhalten die Kriegsdienstverweigerer jede Menge Gegenwind. In den sozialen Medien werden sie als "Verräter" bezeichnet, Verteidigungsminister Umerow kommentierte beispielsweise im staatlichen Fernsehsender "Suspilne": "Leider haben wir die Vorstellung, dass es eine Strafe ist, seinem Land zu dienen. Für mich ist es eine Ehre."

Maxym, der aus einer Millionenstadt im Osten des Landes kommt und dort Unternehmer war, sieht das ganz anders. Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, befand er sich gerade in Ägypten im Urlaub. "Ich habe zwei Kinder, also habe ich mich nicht getraut, mit ihnen nach Hause zu reisen und bin nach Deutschland gezogen", sagt er.

Gefängnisstrafen bis zu 12 Jahre

Er sei Pazifist und könne sich nicht vorstellen, seinesgleichen zu töten. "Ich kann auch nicht verstehen, dass die Kinder von Beamten und Abgeordneten nicht in den Krieg ziehen. Die Entscheider geben deshalb oft dumme Befehle", meint er. Er sehe keinen Sinn darin, diejenigen, die es nicht wollten, zum Kämpfen zu zwingen.

"Es wird nur viele Leichen geben", fürchtet Maxym. Dennoch ist das Thema für ihn schwierig. "Natürlich möchte ich gerne in die Ukraine zurückkehren, ich liebe meine Heimat", sagt er. Was ihn dort nach Kriegsende erwarten würde, weiß er nicht. Ein Gesetz sieht Gefängnisstrafen von fünf bis zwölf Jahren für Deserteure vor.

Vor dem Krieg sei es ihm in der Ukraine deutlich besser gegangen als jetzt arbeitslos in Deutschland. "Je mehr ich von den Beamten höre, deren Söhne nicht selbst im Krieg sind, desto weniger will ich zurück", sagt Maxym.

Skandal um ukrainischen Parlamentarier

Einen Skandal gab es beispielsweise um den ehemaligen Parlamentsabgeordneten und Berater des Innenministeriums, Vadym Denysenko. Er hatte für den Wiederaufbau der Ukraine ein Ausreiseverbot für ukrainische Männer bis zu drei Jahre nach Kriegsende gefordert – sein Sohn Andrey Denysenko tourte aber selbst durch Europa.

"Ich kommuniziere mit vielen Bekannten, auch mit denen, die sich im Krieg befinden. Sie alle vergleichen die Situation mit Israel. Anders als in der Ukraine befinden sich in Israel die Kinder von Beamten und Ministern im Krieg", meint Maxym. Deshalb würden sie auch keine unüberlegten Befehle erteilen.

Vergleich zu Israel

"Wenn dir im Krieg ein Arm oder ein Bein abgerissen wird, stellt die israelische Regierung Geld für eine Prothese bereit. In der Ukraine wird dich niemand mehr brauchen, die Invalidenrente ist dürftig", sagt Maxym. Für eine Regierung mit einer solchen Haltung ist er nicht bereit, sein Leben zu riskieren. Die Ausrüstung der Soldaten sei besorgniserregend.

Wie sicher er in Deutschland vor einer Einziehung ist, ist sich Maxym nicht sicher. "Ich bin legal ausgereist und vermute, die Regierung schaut erst auf die illegal Ausgereisten", sagt er. Sicher sein, was morgen passiert, könne man sich aber nie. Seit Februar 2022 wurden über 14.600 Männer bei dem Versuch festgenommen, die Grenze illegal zu überqueren. Weitere 6.200 Männer sind mit gefälschten Papieren erwischt worden.

Was Deutschland dazu sagt

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat bereits klargestellt, dass Deutschland Ukrainer nicht gegen ihren Willen zu einer Wehrpflicht oder zu einem Kriegsdienst zwingen wird. Eine Pflicht zur Auslieferung hat Deutschland nicht. Gleichzeitig ist Kriegsdienstverweigerung aber auch kein Asylgrund.

Das Aufenthaltsrecht, welches Deutschland den Ukrainern aktuell freiwillig gewährt, geschieht auf Grundlage der sogenannten Massenzustrom-Richtlinie der EU. Sie könnte durch Entscheidung des BAMF aber auch nur auf bestimmte Gruppen von Ukrainern eingeschränkt werden.

So sprach sich beispielsweise Unionsfraktionsvize Johann Wadephul (CDU) dafür aus, die Ukraine bei der Rekrutierung politisch zu unterstützen. "Diese Menschen halten sich hier auf, weil dort Krieg geführt wird - und sie müssen einfach einen Beitrag dazu leisten, dass dieser Krieg beendet wird", sagte er im TV-Sender Welt.

Verwendete Quellen

Kiew fordert internationale Untersuchung nach Absturz von Militärflugzeug

In der russischen Grenzregion Belgorod war ein russisches Militärtransportflugzeug abgestürzt – laut Moskau mit 65 ukrainischen Kriegsgefangenen an Bord. Wolodymyr Selenskyj fordert nun eine internationale Aufklärung. © ProSiebenSat.1
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