Der Fluss Sejm in der Ukraine zeigt alarmierende Anzeichen einer Umweltkrise. Schwarzes Wasser und tote Fische prägen die Landschaft, während die Ursachen für die Verschmutzung weiterhin im Dunkeln liegen. Ein Verdacht fällt auf absichtliche Schadstoffeinleitungen aus Russland. Die Ukraine spricht von Ökozid, Russland schweigt.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Joana Rettig sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Ein fauliger Geruch steigt auf. Das Wasser: schwarz. Fische sind auf den ersten Blick keine zu sehen - sie wurden schon entfernt, denn sie sind fast alle tot. Beim näheren Betrachten fallen winzige Fische nahe der Wasseroberfläche auf, die versuchen, das bisschen Sauerstoff aufzusaugen, das noch übrig ist.

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Am sandigen Ufer des Flusses Sejm in der nordukrainischen Kleinstadt Baturyn sammelt sich eine ledrige Decke aus Algen und pechschwarzem Schlamm. Die Ukrainer sprechen von einem Ökozid. Einer Naturkatastrophe. Wer schuld daran ist? Angeblich Russland.

In Baturyn, einer historischen Kleinstadt mit Pflastersteinen und touristisch aufbereiteten Relikten der Kosakenzeit, treffen wir Pavlo Shymko: 53 Jahre alt, Bürgermeister der etwa 25 Kilometer entfernten Stadt Bachmatsch und administrativer Leiter des gleichnamigen Landkreises, zu dem auch Baturyn gehört. Die übrig gebliebenen Fische und Amphibien, sagt Shymko, werden in den kommenden Tagen eingefangen - und umgesiedelt. Aber was war passiert?

Chronik einer Umweltkatastrophe

Am 14. August stellen Freiwillige eine Verschlechterung der Wasserqualität des Flusses Sejm in der Nähe des Dorfes Manukhovka nahe der russischen Grenze fest. Wasserproben werden entnommen und auf verschiedene hydrochemische, radiologische und mikrobiologische Indikatoren untersucht.

Am 19. August berichtet die regionale Militärverwaltung von Sumy, dass eine der Wasserproben gefährliche Pestizide enthält. Insbesondere werden hohe Konzentrationen von Heptachlor (siebenmal mehr als der zulässige Wert) und Sprengstoffderivaten (1,5- bis zweimal mehr als der zulässige Wert) festgestellt.

Auch zu finden sind Ammonium und Schwermetalle wie Mangan. Das teilte unter anderem die Direktorin der Abteilung für Umweltschutz und natürliche Ressourcen der staatlichen Regionalverwaltung Sumy, Iryna Kashpur, über den Telegram-Kanal der regionalen Militärverwaltung mit. Die Behörden untersagen daraufhin das Baden, Fischen und die Nutzung des Wassers für den Haushaltsgebrauch.

Später meldet die Staatliche Umweltinspektion, dass die Trübung des Wassers im Sejm nahe der Staatsgrenze auf die Einleitung unbekannter Stoffe aus dem Gebiet der Russischen Föderation hindeuten könnte. Schnell machen Instagram- und Twitter-Posts die Runde. Der Tenor: Russland vergiftet unsere Flüsse. Ein Ökozid. Ein Ökozid gilt auch als eine Form des hybriden, des biologischen Kriegs, wie der Militärexperte Ralph Thiele auf Anfrage unserer Redaktion bestätigt.

Ein ledriger Film von Algen und schwarzem Schlamm legt sich über den Flussboden am Ufer des Sejm. © Joana Rettig

Am 27. August berichtet die Staatliche Agentur der Ukraine für Landgewinnungs-, Fischerei- und Ernährungsprogramme, dass das Massenfischsterben auf den kritisch niedrigen Sauerstoffgehalt im Wasser zurückzuführen sei. "Der Feind begeht weiterhin Umweltverbrechen", heißt es in einer Mitteilung. Weiter schreibt die Agentur: "So sollen russische Terroristen ab dem 14. August Abfälle mit unbekannten Substanzen in den Fluss Sejm gekippt haben, was zu einer großflächigen Verschmutzung des Gewässers führte."

28. August: Auch in der Region Kiew sorgt man sich. Und die Situation wird unübersichtlich. Zunächst informiert der Bürgermeister einer Kleinstadt über Twitter, man habe in einer außerordentlichen Sitzung der Kiewer Regionalkommission für technisch-ökologische Sicherheit und Notfälle beschlossen, das Baden und Fischen im Fluss Desna zu verbieten.

Zum Hintergrund: Der Fluss Sejm fließt von Russland aus kommend durch den nordöstlichen Teil der Ukraine und mündet in den Desna. Dieser fließt weiter bis zur Hauptstadt und mündet dort in den größten Fluss des Landes: den Dnepr. Offenbar handelt der Bürgermeister aber vorschnell: Er löscht seinen Tweet kurze Zeit später wieder.

Am 31. August erklärt der erste stellvertretende Vorsitzende der Staatlichen Umweltinspektion, Dmitri Zaruba, dass die Verschmutzung möglicherweise durch Verstöße bei der Abfallbehandlung auf dem Territorium der Russischen Föderation verursacht worden sein könnte. Wenig später bestätigt die staatliche Verbraucherschutzbehörde der Ukraine, dass keine hochgiftigen Komponenten, sondern nur organische Verschmutzungen im Wasser festgestellt wurden. Eine unabhängige Untersuchung zeigt einen gravierenden Überschuss an Mangan im Wasser des Flusses Sejm.

Desna noch nicht betroffen

Stand Anfang September zeigt der Fluss Desna noch keine Anzeichen einer gefährlichen Vergiftung, heißt es bei der staatlichen Agentur für Wasserressourcen der Ukraine. Dennoch rät auch die Kiewer Regionalverwaltung davon ab, das Wasser zu nutzen oder darin zu baden.

Viele Untersuchungen also - mit vielen unterschiedlichen Ergebnissen und großen Fragezeichen bei der Suche nach der Ursache. Ob organisch oder nicht: Wie die Stoffe in den Fluss gelangt sind, konnte bisher nicht abschließend geklärt werden. Auch wenn Behörden und Freiwillige von Beginn an Maßnahmen eingeleitet hatten, die das Fischsterben stoppen und die Verbreitung der Verschmutzung eindämmen sollten, geht das Sterben weiter.

Nur zwei Tage nach dem Besuch unserer Redaktion in Baturyn sendet Bürgermeister Pavlo Shymko ein Video aus der Großstadt Tschernihiw. Darauf zu sehen: Unmengen an toten Fischen am Flussufer sowie Dutzende Fische, die gerade einen Todeskampf kämpfen.

Shymko ist überzeugt: "Das war eine Kriegshandlung." Auf Nachfrage erklärt er, es gebe gesicherte Informationen - auch er habe Beweisvideos und Bilder gesehen -, dass russische Akteure diese Stoffe absichtlich in den Sejm gekippt hätten. "Man hat sie in Tjotkino beobachtet", sagt er. Tjotkino ist eine russische Kleinstadt in der Region Kursk. Es gebe zudem Drohnenaufnahmen, sagt Shymko, die seine Aussage bestätigen. Die seien allerdings geheim.

Russland schweigt zu Vorwürfen

Auf die Anfrage unserer Redaktion, ob die russische Regierung Kenntnis von derartigen vorsätzlichen Handlungen habe, reagierte weder das russische Außen- noch das Umwelt- oder Verteidigungsministerium.

Nachdem die ukrainischen Streitkräfte in ihrer Kursk-Offensive die russische Grenze überschritten hatten, wurden im Zuge der Kampfhandlungen auch eine Zuckerfabrik sowie eine Brennerei in der Kleinstadt Tjotkino zerstört oder beschädigt. Das geht aus verschiedenen staatlichen Quellen hervor. Dort heißt es auch, dass die Verschmutzung des Flusses hierdurch zustande gekommen sein könnte.

Es gibt demnach viele Gründe, warum der Fluss schwarz und für die darin lebenden Individuen tödlich geworden ist. Doch den betroffenen Städten, Dörfern, Landkreisen, Einwohnern und Wasserlebewesen nutzt der Streit um die Ursache zunächst wenig. Bisher sind offiziellen Angaben zufolge bereits mehr als elf Tonnen tote Fische aus dem Wasser geborgen worden. Die Gemeinden, die an die Flüsse angrenzen, gelten zumeist als Erholungsgebiete.

Heißt: Die Wirtschaft hängt stark von Einnahmen aus touristischen Angeboten ab. Die bleiben allerdings aus, da zum einen das Baden verboten ist und Besucher es sowieso nicht länger als 30 Minuten in Flussnähe aushalten, ohne starke Kopfschmerzen zu erleiden.

Nicht nur Fische werden Opfer der Verschmutzung

Und nicht bloß Fische werden Opfer der Verschmutzung: Zugvögel wie Enten, Gänse, Störche, Kraniche und Seeadler. Schildkröten. Bisamratten. Bieber und seltene Otter. Sie alle, sagt Shymko, seien entweder bereits tot aufgefunden oder durch die Verschmutzung des Wassers vertrieben worden. Eine Katastrophe für das Ökosystem. Und neben dem Tierreich litten auch die Pflanzen im und um den Fluss herum an den giftigen Stoffen.

"Der Fluss reinigt sich zwar selbst", sagt der Bürgermeister, "aber dennoch versuchen wir das Ökosystem durch unsere Maßnahmen am Laufen zu halten." Die Maßnahmen: Belebtschlamm wird in die Oberflächengewässer eingebracht, um die Schadstoffe zu absorbieren. Gleichzeitig erfolgt eine künstliche Belüftung des Wassers, um den Sauerstoffgehalt zu erhöhen. Diese Maßnahmen sollen die Wirkung der hinzugefügten Bakterien verstärken und so die Wasserqualität verbessern. Allerdings gilt dies nur für den Desna.

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Hohe wirtschaftliche Verluste durch Verschmutzung

Eine ähnliche Behandlung für den Fluss Sejm ist offenbar nicht möglich. Da sich Schwebstoffe am Grund des Flusses absetzen, könnte eine künstliche Belüftung oder andere Sanierungsmaßnahmen zu einer erneuten Verschmutzung führen. Igor Gopchak, stellvertretender Leiter der staatlichen Wasserbehörde, erklärte, dass die Sanierung des Flusses erst durchgeführt werde, nachdem eine sichere Methode entwickelt und die Folgen des Notfalls vollständig bewältigt wurden.

Bisher sind laut Shymko rund 360 Kilometer Flusslänge und rund eine Million Menschen von der Verschmutzung betroffen. Tourismus, Industrie, Landwirtschaft - und Leitungswasser. Innerhalb von zwei Wochen lagen die wirtschaftlichen Einbußen allein in Baturyn umgerechnet bei rund 100.000 Euro. Bezieht man die Kaufkraft in der Ukraine mit ein, liegt der Verlust noch einmal deutlich höher.

Während der Bürgermeister am Fluss entlang führt, tauchen zwei Frauen auf. Natalija Koval und Svitlana Mazepa. Sie arbeiten beide für das Epidemiologische Zentrum der Tschernihiw Region. Seit die Wasserverschmutzung aufgetreten ist, besuchen sie täglich das Ufer, um Wasserproben zu entnehmen. Doch die Ergebnisse bekommen selbst sie nicht zu Gesicht. Das hat zwei Gründe, meint Shymko. "Man will nicht, dass der Feind weiß, was wir wissen. Außerdem will man Panik in der Bevölkerung verhindern."

Wichtig sei aber: Weder Salmonellen noch Cholera seien im Wasser nachgewiesen worden. "Slava Bohu", ruft Pavlo Shymko. "Gott sei Dank."

Über den Gesprächspartner

  • Pavlo Shymko ist 53 Jahre alt und seit 2010 der Bürgermeister der nordukrainischen Stadt Bachmatsch. Zudem leitet er die Administration des gleichnamigen Landkreises. Shymkos Tochter Anna Kysil ist Mitglied der Grünen in Aachen und tritt 2025 für den Wahlkreis Aachen 2 zur Bundestagswahl an.

Verwendete Quellen

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