Der ukrainische Präsident spricht von Verhandlungen mit Putin. Taktische Anpassung oder echter Strategiewechsel? Was steckt hinter dieser neuen Rhetorik und wie realistisch ist eine diplomatische Lösung? Welche Auswirkungen hat dies auf den Ukrainekrieg und wie steht die Bevölkerung dazu? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Eine Analyse
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Müdigkeit macht sich breit in der Ukraine. Woran das zu erkennen ist? Selbst der Präsident des vom Krieg ausgezehrten Landes, Wolodymyr Selenskyj, spricht nun von Verhandlungen mit Russland.

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In einem Interview mit dem britischen Sender BBC hatte Selenskyj kürzlich gesagt, er sei bereit, mit Wladimir Putin direkt zu verhandeln. "Wir werden mit denen reden, die in Russland alles entscheiden". Man müsse zudem nicht alle Territorien zurückerobern, sagte er. "Ich denke, das kann man auch mithilfe der Diplomatie erreichen."

Jüngst brachte Selenskyj sogar direkt die Abtretung von Gebieten an Russland als Option ins Spiel – zumindest, wenn das Volk zustimmt. Jede Frage der "territorialen Integrität der Ukraine", könne "nicht von einem Präsidenten, einer einzigen Person oder von allen Präsidenten der Welt ohne das ukrainische Volk gelöst werden". Bislang galt die Abgabe von Territorien in Kiew als Tabu.

Woher kommt also der Sinneswandel – und ist es überhaupt einer? Was genau meint Selenskyj? Wie würden Verhandlungen aussehen? Kommt jetzt die Wende im Krieg? Und: Wie denkt die Bevölkerung darüber? Ein Überblick.

Wie sind Selenskyjs Aussagen zu deuten?

"Diese Bereitschaft zu Verhandlungen folgt einer Strategie veränderter Selbstdarstellung Kiews", erklärt der Politikwissenschaftler und Analyst des Stockholm Center for Eastern European Studies, Andreas Umland, im Gespräch mit unserer Redaktion. Insbesondere gehe es dabei um das westliche Ausland. Denn: Die Kritik aus dem Westen wurde immer lauter. Angeblich sei die Ukraine nicht bereit zu Verhandlungen. Ähnliches hatte Selenskyj in der Öffentlichkeit auch immer betont. Doch hinter den Kulissen, meint Umland, habe es immer eine Bereitschaft gegeben – nur eben nicht zu den Bedingungen Russlands.

"Jetzt ist man öffentlich bereit zu verhandeln, aber an der Substanz der ukrainischen Position hat sich wenig geändert", sagt der Experte. Kiew sei demnach bereit, mit Moskau über die Umstände eines russischen Rückzugs aus der Ukraine zu verhandeln. Dabei erinnert Umland an eine alte Idee, die schon seit 2014 diskutiert wird: Uno-Friedenstruppen könnten für eine Übergangszeit in den derzeit von Russland besetzten Gebieten der Ost- und Südukraine stationiert werden. Auch könnte Kiew übergangsweise seine Bemühungen um einen Nato-Beitritt für einige Jahre auf Eis legen. Ein baldiger Eintritt sei ohnehin unwahrscheinlich.

Ähnliche Vorschläge hatte es auch bei den Istanbuler Verhandlungen im Jahr 2022 gegeben. "Damals bemühte sich Kiew um alternative Sicherheitsgarantien des Westens für die Ukraine, also um eine zeitweise Alternative zur Nato-Mitgliedschaft", sagt Umland.

Würde Kiew Territorien abtreten?

Die Aussage Selenskyjs, nicht alle Territorien zurückerobern zu müssen, schlägt Wellen. Dennoch, sagt der Experte, heißt das nicht, dass man in Kiew bereit ist, seine Gebiete an Russland abzugeben. Auch wenn die Ukrainer mittlerweile eher bereit dazu seien. Noch immer sei der Großteil der Bevölkerung dagegen. "Daher meint Selenskyjs Aussage wohl am ehesten, dass er die besetzten Gebiete mittels Diplomatie zurückerlangen möchte, nicht durch Kämpfe."

Kiews Führung habe sich in der Vergangenheit manchmal undiplomatisch gegenüber Moskau geäußert, sagt Umland. Dies habe ihr mehrfach – auch jetzt im amerikanischen Wahlkampf – den Vorwurf der Kriegslust eingebracht. "Was jetzt passiert, ist eine Veränderung der Kiewer Rhetorik zur ukrainischen Position gegenüber Russland – aber nicht der Substanz."

Was hat der US-Wahlkampf mit Selenskyjs Rhetorik zu tun?

Auch wenn die Demokraten in den USA derzeit durch die wahrscheinliche Nominierung der Vize-Präsidentin Kamala Harris einen Auftrieb erleben: Die Sorge davor, dass der Ex-Präsident und Populist Donald Trump erneut gewählt wird, ist auch in der Ukraine groß. "Die veränderte Rhetorik der ukrainischen Führung", erklärt Umland, "könnte etwas damit zu tun haben, dass man bereits jetzt auf eine mögliche Umorientierung der US-Politik unter einer Trump-Administration reagiert."

Es könnte demnach auch ein Zugehen auf Trump sein, da es bisher Spannungen in der Beziehung zwischen Selenskyj und dem ehemaligen US-Präsidenten gab - auch durch das Impeachment-Verfahren gegen Trump, das durch ein Telefongespräch zwischen ihm und Selenskyj angestoßen wurde. "'Wenn Trump Verhandlungen möchte, sind wir dazu bereit' - das will Kiew womöglich gegenüber Washington ausdrücken." Ein prinzipieller Verhandlungswille sei definitiv auch vorher schon dagewesen – "er wurde öffentlich nur nicht so sehr betont".

Können Putin und Selenskyj überhaupt verhandeln?

Tatsächlich befinden sich die beiden Präsidenten in einer Patt-Situation, die unüberwindlich scheint. Verhandlungen, meint Umland, dürften zum aktuellen Zeitpunkt für beide Seiten absurd erscheinen. "Die Krim und die vier ukrainischen Festlandregionen, die Russland teilweise besetzt hält, sind bereits als neue Staatsgebiete der Föderation in der russischen Verfassung verankert. In der Ukraine sind die Grenzen vor 2014 und damit die annektierten Gebiete aber ebenso verfassungsrechtlich ukrainisches Staatsgebiet."

Heißt übersetzt: Weder Selenskyj noch Putin können sich aktuell auf Verhandlungen über diese Gebiete einlassen. Denn sie können nicht im Widerspruch zu ihren Verfassungen verhandeln – das würde sie daheim als Verräter brandmarken.

"Ganz schematisch und ohne moralische oder völkerrechtliche Wertung betrachtet, sind beide Präsidenten Gefangene ihrer Verfassung", sagt der Experte. "Sie gelten in ihren Ländern als sogenannte Garanten der Verfassung." Wenn sie diese Rolle nicht erfüllen und das Staatsgebiet verteidigen, sagt Umland, bekommen sie innenpolitisch große Probleme. Neben der Gefahr, des Vaterlandsverrats beschuldigt zu werden, würden sie demnach den patriotischen Teil ihrer Bevölkerung gegen sich aufbringen. "Bei einem Gespräch der beiden Präsidenten oder auch Außenminister würde derzeit nichts herauskommen."

Ist diese Verhandlungsbereitschaft auch ein Signal an die Bevölkerung?

"Wahrscheinlich will Selenskyj auch innenpolitisch auf eine veränderte Stimmungslage eingehen", sagt Umland. In einer kürzlich veröffentlichten Studie des Kyiv International Institute of Sociology geben mittlerweile 32 Prozent der Befragten an, dass die Ukraine Gebiete abgeben könne, um möglichst schnell Frieden herzustellen. Im Dezember 2023 waren es noch 19 Prozent.

Zudem hält ein Großteil der Bevölkerung (57 Prozent) folgendes Szenario laut der Studie zumindest einmal für akzeptabel: Obwohl die Ukraine dies nicht offiziell anerkennt, behält Russland die Kontrolle über die besetzten Gebiete der Oblaste Donezk und Luhansk sowie der Krim. Die Ukraine erhält dafür die vollständige Kontrolle über die Regionen Saporischschja und Cherson zurück. Die Ukraine wird Mitglied der Nato und verfügt über echte Sicherheitsgarantien. Zudem wird sie Mitglied der Europäischen Union und erhält vom Westen alle notwendigen Finanzmittel für den Wiederaufbau.

Die Menschen, sagt Umland, sind müde. "Ein Teil ist sogar so sehr ermüdet, dass er bereit ist, zum Zustand im Februar 2022 zurückzugehen – also vor Beginn der Großinvasion." Damals hätten sich bereits einige mit dem faktischen Verlust des östlichen Donbass und der Krim arrangiert. Zwar sei dieser Umstand kaum von jemandem begrüßt worden, aber zu diesem Zeitpunkt existierte bereits fast acht Jahre lang der Fakt, dass Russland diese Gebiete gestohlen hatte. "Jetzt wirkt es so, als wollten einige zu diesem Status quo von 2021 zurückkehren."

Es gebe aber immer noch einen großen Teil der Bevölkerung, der das nicht will. "Und das Anheizen von Spannungen zwischen den verschiedenen ukrainischen Bevölkerungsgruppen – den Falken und den Tauben – könnte auch ein Teil von Russlands Taktik sein", sagt der Experte. "Moskau will schon seit 2014 einen Bürgerkrieg in der Ukraine anfachen."

Die Taktik: durch Minsker, Istanbuler und andere Verhandlungen über ukrainische Gebietsabtretung die Falken und Tauben gegeneinander aufbringen. "Gäbe es dann einen richtigen Bürgerkrieg zwischen Ukrainern und nicht nur einen Pseudobürgerkrieg wie 2014 bis 2021 zwischen Ukrainern und russischen Agenten oder Truppen verschiedener Art, dann könnte Russland die ganze Ukraine schnell übernehmen."

Ist die neue Rhetorik nun ein Wendepunkt?

Für die Kommunikation mit dem Westen, meint Umland, könne es ein gutes Zeichen sein, die bisherige Position gegenüber Moskau zumindest in der öffentlichen Darstellung aufzuweichen. "Damit würde man etwa den de facto prorussisch agierenden 'Friedensengeln' in Deutschland den Wind aus den Segeln nehmen", sagt er.

"Derlei Gutmenschen mit geringem Verständnis des russischen Imperialismus beziehen sich gern auf Zitate, in denen bestimmte ukrainische Politiker jegliche Verhandlungen mit Putin ausschließen." Am Kriegsgeschehen selbst, sagt Umland, werde der Rhetorikwechsel allerdings nichts ändern.

Über den Gesprächspartner

  • Andreas Umland ist promovierter Politikwissenschaftler, Publizist und Analyst beim Stockholm Center for Eastern European Studies. Er ist Gründer und Redakteur der Buchreihe "Soviet and Post-Soviet Politics and Society" und neben weiteren Projekten auch Vorstandsmitglied des Deutsch-Ukrainischen Forums.

Verwendete Quellen

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