Seit Wochen gehen die Menschen in Moskau auf die Straße - sie protestieren für freie Wahlen und gegen Repression. Die Antworten des russischen Regimes fallen teils drastisch aus. Eines scheint offensichtlich: Putin ist nervös. Doch was fürchtet der Kremlchef? Die Russlandexperten Sarah Pagung und Fabian Burkhardt erklären die Hintergründe - und analysieren auch, wie es nach Putins Amtsende 2024 weitergehen könnte.

Eine Analyse

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Erschreckende Bilder von Russland gehen um die Welt: Polizisten mit Schlagstöcken gehen brutal gegen Demonstranten vor, nehmen mehr als 2.500 Bürger in Gewahrsam oder verhängen drastische Geldstrafen. Die Regierung zeigt sich gegenüber den Protestlern unnachgiebig. Was ist derzeit los in Russland?

Am 8. September finden Regionalwahlen in Moskau statt. "Vielen oppositionellen Kandidaten wurde unter offensichtlich vorgeschobenen Gründen die Zulassung zur Wahl verweigert. Daraufhin hat sich ein andauernder Protest entwickelt, der größte seit 2011/2012", erklärt Russlandexpertin Sarah Pagung von der "Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik" im Gespräch mit unserer Redaktion. Mittlerweile sind die Proteste auf mehrere zehntausend Bürger angewachsen, sie demonstrieren anhaltend seit Ende Juli.

Hartes Vorgehen bezeugt Nervosität

Obwohl die Proteste lokal begrenzt sind, die Wahlen recht unbedeutend und der Anlass vergleichsweise gering, greifen Polizei und Justiz durch. "Putins hartes Vorgehen ist ein Zeugnis seiner Nervosität und zeigt zugleich: Er ist sich seiner Macht nicht mehr so sicher", sagt Expertin Pagung. Auch seine Beliebtheitswerte sind auf historischem Tiefststand - dabei war die Zustimmung zu ihm als Person stets die Legitimation der Regierung.

Das Regime sei nervös, besonders weil ein potenzieller Machtwechsel ansteht: Denn 2024 muss Wladimir Putin - vor 19 Jahren erstmals zum Präsidenten gewählt - abtreten. Das verlangt die russische Verfassung. Sie sieht eine Amtszeit von sechs Jahren vor, eine Wahl in das Amt ist nur zweimal hintereinander möglich.

Regierungskrise oder Abflauen nach dem Wahltag?

"Eine Wiederwahl Putins ist nur denkbar, wenn ein weiterer Präsident dazwischen gewählt wurde. So wie 2012, nachdem Medwedew Präsident war", sagt Politikwissenschaftlerin Pagung. "Es geht also um grundsätzliche Fragen der Weiterführung des Regimes", urteilt sie.

Russlandexperte Fabian Burkhardt von der "Stiftung Wissenschaft und Politik" hält die staatlichen Reaktionen ebenfalls für überzogen. Moskau sei als Hauptstadt wichtig, die Krise sei aktuell für den Kreml aber noch gut zu managen. "Vermutlich schwächen sich die Proteste nach dem Wahltag deutlich ab, dann erlischt der ursprüngliche Anlass - die Nicht-Zulassung der Kandidaten", vermutet der Experte.

Duma-Wahlen haben hohe Symbolkraft

Burkhardt sieht in dem Verhalten der Regierung die Taktik, die Demonstranten mit Polizeigewalt und strafrechtlicher Verfolgung abzuschrecken. "Aus Sicht des Kremls wurde bei der Protestwelle 2011/2012 mit Repressionen erfolgreich reagiert. Das wiederholt man nun", beobachtet er. Aus Sicht Putins handele es sich um eine regionale Krise, nicht um eine gesamtrussische.

Pagung stimmt zu: "Die Wahlen in Moskau sind nicht sonderlich bedeutend. Die Moskauer Duma hat kaum Befugnisse und die Macht der Abgeordneten ist beschränkt." Es handele sich aber um ein Symbol für lokale Partizipation. Hinzu kommt: Der Moskauer Bürgermeister Sergei Semjonowitsch Sobjanin wird teilweise als Nachfolger von Putin gehandelt.

Teilhabemöglichkeiten werden immer kleiner

Experte Burkhardt ergänzt: "Die Wahlen bieten der Opposition eine Möglichkeit zu brillieren. Sie hat sich professionalisiert und es gibt neue Gesichter."

Pagung beobachtet die Entwicklung in Russland mit Sorge: "Während die Partizipationsräume im gesamtstaatlichen Bereich seit je her immer kleiner wurden, gab es nach wie vor durchaus Entfaltungsräume für Journalismus und lokale Teilhabe. Diese schließen sich nun auch." Gesetze, die Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit beschneiden, gehören dazu.

Rufe: "Putin ist ein Dieb"

Die Regierung versucht etwa herauszufinden, wer Schulden oder den Einzug zum Militärdienst unterlaufen hat und antwortet mit Gewalt und Inhaftierungen. In den Medien laufen staatliche Kampagnen als Ablenkungsversuche. Entsprechend groß ist die angestaute Wut und der Veränderungswille der Bürger. Bei Demonstrationen rufen sie "Putin ist ein Dieb" oder "Russland ohne Putin".

Burkhardt sieht den Kremlchef dennoch fest im Sattel: "Das Regime hat noch viele Ressourcen für politische Stabilität. Momentan gibt es keine ernst zu nehmende Gefahr für die Regierung", sagt er.

Wie fest sitzt Putin im Sattel?

Jene entstünde nur bei einer Spaltung der Elite, wenn also Teile die Proteste unterstützen würden. "Das war 2011/2012 der Fall und wäre aktuell nur bei einer weiteren Gewalteskalation mit schwer Verletzten oder sogar Toten zu erwarten", meint Burkhardt.

Auch Pagung sagt: "Putin persönlich ist noch nicht die Zielscheibe. Die Proteste sind nicht personell mit ihm verknüpft, sondern mit dem System an sich." Putin habe es in den vergangenen Jahren geschafft, sich als jemand zu inszenieren, der über dem System schwebt - obwohl er der Kopf davon ist. Sollte es den Bürgern gelingen, die Proteste regionen- und themenübergreifend zu verknüpfen, sieht Pagung die Existenz des Regimes gefährdet. "Weg von lokalen Wahlen mit lokalen Themen hin zu einem staatsweiten Narrativ", beschreibt sie.

Verfassungsänderung denkbar

Doch wie geht es nun mit Russland weiter? Einig sind sich die Experten vor allem darin: Zum aktuellen Zeitpunkt ist alles höchst spekulativ. "Entweder Putin ändert die Verfassung und tritt wieder als Präsidentschaftskandidat an, oder er installiert - ähnlich wie Boris Jelzin 1999 - eine Nachfolge, die ihm zusichert, dass er nicht strafrechtlich verfolgt wird und er seine angehäuften Ressourcen behalten kann", vermutet Pagung.

Möglich sei auch, dass Putin zum Rückzug gezwungen werde - durch Protest aus der Bevölkerung oder aus dem Machtapparat heraus. Schon einmal, 2008, gelang es Putin, offiziell abzutreten, inoffiziell aber die Fäden in der Hand zu behalten. Damals wurde Medwedew Präsident, Putin lenkte aber weiter von der Position des Ministerpräsidenten die Geschicke.

Putins Stärke wird zur Schwäche

Autoritäres Regime, kein anerkannter Prozess der Machtübergabe, Deadline für die Elite 2024? "An diesem Punkt sind autoritäre Regime zumindest extrem anfällig", weiß Pagung. Gerate ein Regime in eine solch gefährdende Situation mit einem Ballast wie den Protesten, dann erhöhe dies das Risiko von unvorhergesehenen Einflüssen.

Was lange Zeit Putins Stärke war, dürfte zu seiner Schwäche werden: Das politische System ist auf den Präsidenten zugeschnitten, bei ihm konzentriert sich die Macht. "Das System baut aber auf Loyalität auf, und es ist schwierig für den Präsidenten, qualitativ gute Informationen zu bekommen, was die Lage im Land betrifft", merkt Wissenschaftler Burkhardt an. Die Anfälligkeit für Fehler durch die Zentralisierung wachse mit den Jahren. "Das wird für den Kreml bis 2024 eines der größten Probleme sein", meint der Experte.

Außenpolitische Abenteuer?

Und bis dahin? Wie sollte die Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft ausfallen? Außenpolitische Abenteuer, um von der innenpolitischen Krise abzulenken, will Pagung nicht ausschließen. Gleichzeitig versucht Russland schon jetzt, die Proteste als vom Ausland inszeniert darzustellen. "Zu offene Unterstützung liefert dem russischen Narrativ Futter", warnt Pagung.

International hat Russland sich außerdem verpflichtet, faire und freie Wahlen sowie Versammlungsfreiheit zu garantieren. "Vor dem Hintergrund der Entscheidung, Russland das Stimmrecht in der parlamentarischen Versammlung des Europarats wiederzugeben, ist es sehr kritisch, dass die Wahlen nun so eingeschränkt werden", mahnt Burkhardt. Deutschland solle weiterhin auf die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit setzen.

Sarah Pagung ist Programmmitarbeiterin am Robert Bosch-Zentrum für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien. Die Fachgebiete der studierten Politikwissenschaftlerin sind Außen- und Sicherheitspolitik der Russischen Föderation, Deutsch-Russische Beziehungen und die Republik Moldau.
Fabian Burkhardt ist Wissenschaftler der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien der Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin. Er wurde an der Universität Bremen mit einer Arbeit über die Institution des Präsidenten in Russland im Fach Politikwissenschaft promoviert. 2018/2019 war er Postdoktorand an der Higher School of Economics in Moskau. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf politischen Institutionen und der Elite in der Russischen Föderation.

Verwendete Quellen:

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