Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Umwidmung der Corona-Hilfen für verfassungswidrig erklärt hat, klafft ein großes Loch im Haushalt der Bundesregierung. Finanzminister Christian Lindner hat daher nun einen Nachtragshaushalt angekündigt.

Eine Analyse
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"Es gibt jetzt neue Rechtsklarheit, wie wir mit Sondervermögen und mit Notlagenkrediten umzugehen haben", erklärte Finanzminister Christian Lindner am Donnerstag. "In Absprache mit dem Bundeskanzler und dem Vizekanzler werde ich in der nächsten Woche einen Nachtragshaushalt für dieses Jahr vorlegen. Wir werden die Ausgaben, insbesondere für die Strom- und Gaspreisbremse, jetzt auf eine verfassungsrechtlich gesicherte Grundlage stellen."

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Was der FDP-Politiker dabei verschwieg: Hierfür wird die Schuldenbremse umgangen. Diese war für die Liberalen bisher eine heilige Kuh. Auch die Unionspolitiker hielten sie für unabdingbar für nachhaltiges Wirtschaften. CDU-Chef Friedrich Merz hatte sie noch in der ARD-Talkshow "Maischberger" verteidigt. Doch auch bei den Konservativen begann der Widerstand zuletzt zu bröckeln. Im Interview mit dem "Stern" forderte der Regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner (CDU), eine Reform der Schuldenbremse.

"Es ist zu befürchten, dass die Schuldenbremse mehr und mehr zur Zukunftsbremse wird", sagte Wegner. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts habe deutlich gemacht, "wie investitionshemmend die derzeitige Schuldenbremse ist – angesichts von Megabedarfen etwa beim Klimaschutz, den bröckelnden Verkehrswegen, dem riesigen Investitionsstau bei unseren Schulen, der vernachlässigten sozialen Infrastruktur, dem nötigen Umbau unserer Energieversorgung".

60 Milliarden Euro großes Loch im Bundeshaushalt

Die Ampel-Regierung beklagt nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, welches besagt, dass die Umwidmung von Mitteln für die Bekämpfung der Folgen der Corona-Pandemie nichtig sei, ein Loch von 60 Milliarden Euro im Bundeshaushalt. Dieses soll nun teilweise mit einem Kredit über 45 Milliarden Euro gestopft werden. Diese sollen vor allem die Ausgaben des Energie-Krisenfonds WSF auf eine solidere Grundlage stellen.

Für das Aussetzen der Schuldenbremse für den Haushalt 2023 muss die Bundesregierung dem Bundestag vorschlagen, eine außergewöhnliche Notlage zu beschließen, wie eine Sprecherin des Bundesfinanzministeriums am Donnerstag erklärte. Die Schuldenbremse ist im Grundgesetz verankert und kann nur auf diesem Wege umgangen werden. Ist das so einfach möglich? Und kann diese Maßnahme dauerhaft den Haushalt der Ampel-Regierung retten?

"Vor dem Verfassungsgericht ist man in Gottes Hand"

Rüdiger Bachmann, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der University of Notre Dame

Rüdiger Bachmann ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der University of Notre Dame. Gegenüber unserer Redaktion erklärt er, es gebe verfassungsmäßige Restrisiken, ob die Schuldenbremse wirklich auf diesem Weg umgangen werden könne. "Auf hoher See und vor dem Verfassungsgericht ist man in Gottes Hand", sagt der Ökonom. Allerdings habe die Ampel für den Haushalt 2023 wohl keine andere Wahl mehr gehabt. Eine Reformierung der Schuldenbremse könne und solle nicht so schnell erfolgen.

Aus Sicht von Bachmann sind mit dem Nachtragshaushalt allerdings nicht alle Probleme aus der Welt geschafft, die das Urteil aus Karlsruhe zum bestehenden Haushalt für die Ampel verursacht hatte. Das große Problem sei demnach der Haushalt 2024 und die folgenden, so Bachmann. "Ich sehe nicht mehr, wie die Ampel Klimaschutz hauptsächlich mit Subventionen betreiben kann."

Nachtragshaushalt gibt nur Rechtssicherheit für 2023

Gustav Horn begrüßt das Auflockern der Schuldenbremse als ersten richtigen Schritt. Der ehemalige wissenschaftliche Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der arbeitnehmernahen Hans-Böckler-Stiftung hatte bereits seit langer Zeit gegen eine Verankerung der Schuldenbremse im Grundgesetz plädiert.

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Gegenüber unserer Redaktion erklärt er, der aktuell geplante Nachtragshaushalt biete lediglich Rechtssicherheit für 2023, für die folgenden Jahre müssten andere Lösungen gefunden werden, um den Haushalt zu stemmen: "Wenn Herr Lindner 2024 die Schuldenbremse einhalten will, dann wird das ein massives Sparprogramm bedeuten, das die Konjunktur einbrechen lassen würde."

Horn sieht daher keine sinnvolle Alternative zu einer Reformierung der Schuldenbremse: "Es zeigt sich in dieser Phase multipler Krisen, die massive Investitionen erfordern, dass die Schuldenbremse ein Hindernis ist." Der Staat werde die notwendigen Mittel niemals mit neuen Steuerprogrammen oder Sparmaßnahmen aufbringen. "Es wäre daher auch gegenüber nachfolgenden Generationen fair, die Schuldenbremse zu reformieren."

Über die Gesprächspartner

  • Rüdiger Bachmann ist ein deutsch-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler und Professor für Wirtschaftswissenschaften an der University of Notre Dame.
  • Gustav Horn ist ein deutscher Wirtschaftswissenschaftler. Vom 1. Januar 2005 bis zum 31. März 2019 war er wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung.

Verwendete Quellen

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