Wer auf Hartz IV ist, bekommt nur das Nötigste. Und die Jobcenter können den Geldhahn noch weiter zudrehen. Fast 15 Jahre lang ging das so. Jetzt greift das Verfassungsgericht von heute auf morgen ein.
Erst streicht ihm das Jobcenter 117,30 Euro im Monat, bei der nächsten Verfehlung 234,60 Euro: Dass er bei der Arbeitssuche nicht kooperiert, wie er soll, hat für einen Hartz-IV-Empfänger in Erfurt 2014 schmerzhafte Folgen. Kein Einzelschicksal - aber darf der Staat das überhaupt: Menschen, die eh von der Hand in den Mund leben, den Geldhahn zudrehen?
Fünf Jahre später gibt das Bundesverfassungsgericht eine unmissverständliche Antwort - und zieht dem Sanktionssystem den größten Stachel gleich selbst. Was das Urteil vom Dienstag (Az. 1 BvL 7/16) bedeutet:
Worum geht es genau?
Seit der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu Hartz IV unter Kanzler
Wie sehen die Hartz-IV-Sanktionen bisher aus?
Betroffene bekommen drei Monate weniger Geld. Wer ohne triftigen Grund einen Termin versäumt, büßt zehn Prozent des monatlichen Regelsatzes ein. Dieser liegt für alleinlebende Erwachsene bei 424 Euro (432 Euro ab 2020). In Karlsruhe ging es um die krasseren Fälle: Wer ein Jobangebot ausschlägt oder eine Fördermaßnahme abbricht, setzt 30 Prozent aufs Spiel. Beim zweiten Mal in einem Jahr sind es bisher 60 Prozent, beim dritten Mal entfällt das Arbeitslosengeld II komplett, samt Heiz- und Wohnkosten und Sozialversicherungsbeiträgen. Bei jungen Menschen unter 25 Jahren wird noch härter durchgegriffen.
Wie viele Menschen trifft das?
2018 haben die Jobcenter rund 904.000 Sanktionen verhängt, in gut drei Viertel der Fälle wegen nicht eingehaltener Termine. Um die gravierenderen Verfehlungen geht es bei knapp jeder fünften Sanktion. Weil es dieselbe Person auch mehrfach treffen kann, ist die Zahl der Betroffenen niedriger. Vergangenes Jahr waren es insgesamt 441.000. Damit waren 8,5 Prozent aller Hartz-IV-Empfänger mindestens einmal von einer Sanktion betroffen. Nach den Vergleichszahlen für den Monat Dezember wurden im Durchschnitt 109 Euro gestrichen.
Warum jetzt das Urteil aus Karlsruhe?
Der Erfurter Hartz-IV-Empfänger akzeptiert die Kürzungen bis heute nicht. 2014 legt er Widerspruch ein; als das nichts hilft, klagt er. Der Mann hatte eine Stelle als Lagerarbeiter abgelehnt, weil er lieber in den Verkauf wollte. Als er im Verkauf zur Probe arbeiten sollte, ließ er den Gutschein verfallen. Ihm deshalb die Leistungen zu kürzen, hält seine Anwältin Susanne Böhme für verfassungswidrig. Am Sozialgericht Gotha stößt sie 2016 auf offene Ohren: Die Richter setzen das Verfahren aus und schalten das Verfassungsgericht ein.
Was haben die Verfassungsrichter entschieden?
Der Staat darf Hartz-IV-Bezieher für Pflichtverstöße abstrafen, auch mit Leistungskürzungen. Dahinter kommt allerdings ein großes Aber: Kürzungen von 60 Prozent und mehr sind für die Richter des Ersten Senats schlicht unzumutbar. "Die hier entstehende Belastung reicht weit in das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum hinein", schreiben sie in ihrem Urteil - Betroffenen bleibt also nicht einmal das Allernötigste zum Leben. Die Richter beanstanden außerdem, dass eine einmal verhängte Sanktion immer die vollen drei Monate gilt. Die Jobcenter können zwar helfen, indem sie Gutscheine für Lebensmittel, Hygieneartikel oder Bustickets ausgeben und dem Vermieter oder Energieversorger Geld überweisen. Das reicht Karlsruhe aber nicht.
Und jetzt?
Die Richter schreiten direkt ein und entschärfen die Sanktionen selbst. Kürzungen von 60 Prozent und mehr darf es ab sofort nicht mehr geben. 30 Prozent weniger bleiben erlaubt. Die Jobcenter dürfen in Zukunft aber nicht mehr pauschal sanktionieren, sondern müssen sich jeden Fall einzeln anschauen - wenn nötig bei einer persönlichen Anhörung. Auf diese Weise soll auffallen, wenn ein Hartz-IV-Empfänger seine Pflichten womöglich gar nicht erfüllen kann, zum Beispiel wegen Problemen mit der Gesundheit oder in der Familie. Zeigt sich ein Betroffener im Nachhinein einsichtig, muss sich das auszahlen: Die Minderung darf dann höchstens noch einen Monat weiter gelten.
Was bedeutet das Urteil für die politische Diskussion?
Die geht jetzt erst so richtig los. Die Vorgaben aus Karlsruhe sollen nur für eine Übergangsphase gelten. Für die Zeit danach muss eine Neuregelung her. Dabei lassen die Verfassungsrichter dem Gesetzgeber weitgehend freie Hand: Laut Urteil könnte er die Kürzungen entweder abmildern, statt Geld Sachleistungen ausgeben lassen oder die Sanktionen auch ganz abschaffen. Als SPD-Politiker will Minister
Welche Fragen bleiben offen?
Weil es um einen älteren Hartz-IV-Empfänger ging, bezieht sich das Urteil ausdrücklich nicht auf die besonders scharfen Sanktionen für Unter-25-Jährige. Bei ihnen ist das komplette Arbeitslosengeld II schon bei der zweiten Pflichtverletzung weg. Heil, der das ohnehin ändern will, sieht seine Position durch das Karlsruher Urteil gestärkt. Die Richter hätten die komplette Streichung der Leistungen dem Grunde nach verworfen. Unklar ist auch, wie es mit den 10-Prozent-Kürzungen wegen verpasster Termine weitergeht. Auch diese Sanktion gilt im Moment immer gleich starr für drei Monate.
Wie geht es für den Erfurter Kläger weiter?
Sein Fall wird demnächst wieder in Gotha verhandelt. Anwältin Böhme hofft, dass auch er profitiert. "Ich hoffe, dass das Jobcenter sich bereiterklärt, die über die 30 Prozent hinausgehenden Minderungen aufzuheben, und dass Leistungen nachgezahlt werden." (hub/dpa)
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