In kürzester Zeit hat der Islamische Staat (IS) ein großes Gebiet im Irak und in Syrien erobert. Dabei nutzen die Extremisten geschickt die instabile Situation im gesamten Nahen Osten aus, während der Westen noch um die richtige Strategie ringt. Doch gibt es die überhaupt?
Klar ist: Die Maßnahmen der IS-Gegner zeigten bisher noch keine entscheidende Wirkung. "Diese chirurgischen Angriffe auf Einzelziele bringen nichts", sagt der Schweizer Professor Albert A. Stahel, Dozent für Strategische Studien an der Universität Zürich. Als weitere Möglichkeiten kämen für den Experten noch eine massive Bombardierung in Betracht, wie sie 2001 in Afghanistan vorgenommen wurde. Doch dabei würden aber auch Zivilisten zu Schaden kommen. Als nächste Stufe gilt der Einsatz von Bodentruppen.
Die Schwierigkeiten im Kampf gegen IS
Für Stahel ist der IS keine Terrormiliz, sondern eine schlagkräftige Armee. Guerillaeinsätze führe er fast nur in den Städten durch, sonst bevorzuge der IS konventionelle Operationen, erklärt der Strategie-Professor. Das hat seinen Grund: Viele Kommandanten haben schon für Al Kaida gegen die USA gekämpft. Hinzu kommen Offiziere aus der irakischen Armee von Saddam Hussein, die Militärerfahrungen aus den Golfkriegen mitbringen. "Das sind kampferprobte Leute, die kann man nicht einfach so ausschalten. Da braucht es eine Streitmacht, die einsatzbereit ist", sagt Stahel.
Die Ursachen für die Stärke der IS liegt aber nicht nur in ihrem professionellen Vorgehen. Die Islamisten haben bewusst das Vakuum ausgenutzt, das die USA 2011 nach ihrem Abzug aus dem Irak hinterlassen haben - und Waffen, Munition und Fahrzeuge von der neuen irakischen Armee erobert. Finanziert werden die geschätzt 40.000 Kämpfer über Quellen aus Saudi-Arabien und den arabischen Emiraten sowie dem Erdöl-Schmuggel. Die Ausrufung des Kalifats nennt Stahel eine "Meisterleistung", weil sie Erinnerungen an die Frühzeit des Islam mit dem arabischen Weltreich weckt und damit den Ruf an die Sunniten verbindet, sich ihnen anzuschließen.
Die bisherige Strategie der Koalition konnte die Dschihadisten kaum zurückdrängen. Der IS bewegt sich inmitten der Bevölkerung, weshalb Luftschläge auch immer zivile Opfer mit sich bringen würden. "Ein Häuserkampf wie in Kobane ist mit High-Tech aus der Luft nicht zu gewinnen", sagt auch Armin Staigis, Vizepräsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Die Alliierten könnten deswegen nur militärisches Gut treffen, das weit entfernt von Ortschaften gelagert wird. Dennoch: Der Westen ist derzeit - auch wegen der unabsehbaren Konsequenzen - nicht bereit, Bodentruppen zu entsenden.
Die ambivalente Rolle der Türkei
"Damit uns, der gesamten Staatenwelt, nicht der Vorwurf eines erneuten Srebrenica gemacht wird, müssen wir tatsächlich alles tun, um die kurdischen Kämpfer in der Region zu unterstützen", meint Staigis. Die Türkei sieht er dabei vor einem Dilemma: Über ihre Grenzen konnten viele von den Islamisten angelockte Kämpfer einreisen. Zeitweilig haben die Verantwortlichen in Ankara auch den IS in Syrien unterstützt. "Erst jetzt sehen sie, wen sie da genährt haben", sagt der Militärexperte. Zudem steht die Türkei der kurdischen Bewegung in Syrien sehr kritisch gegenüber, die mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK in der Türkei eng verknüpft ist. Zu mehr als zur Öffnung von Militärstützpunkten für die Anti-IS-Allianz könne man nach Ansicht von Staigis den Nato-Partner daher nicht bewegen.
Problematisch ist ebenso die instabile Situation im Nahen Osten. "Die nach dem ersten Weltkrieg geschaffene Ordnung in diesem Raum ist im Begriff zu verfallen", sagt Staigis. "Die damaligen Kolonialmächte haben einfach Linien in den Sand gezogen. In den daraus entstandenen Staatsgebilden ist jetzt eine große Dynamik, leider eine gewaltsame." Die Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten sowie der Kampf der Kurden für einen eigenen Staat beherrschen die ganze Region. Auch deswegen hat die Türkei am Dienstag Stellungen der kurdischen PKK bombardiert.
Wie könnte eine Strategie gegen IS aussehen?
Vor dem Hintergrund der instabilen Situation im gesamten Nahen Osten dürfe man jetzt nicht nur über Luftschläge und Bodentruppen diskutieren, sondern müsse auch ein politisches Konzept erarbeiten, fordert Staigis: "Wir sollten nicht nur nach Einzelmaßnahmen greifen, sondern uns überlegen, was die politisch-strategischen Zielsetzungen der Länder in dieser Region und des Westens sind, aber auch Russlands und Chinas, um dieses globales Problem zu lösen." Der frühere Brigadegeneral geht davon aus, dass der Kampf gegen den IS noch Jahre dauern wird.
Auch Strategie-Experte Albert A. Stahel warnt davor, den IS zu unterschätzen: "Der große Fehler, den man jetzt begeht, ist, sich nur auf die militärische Seite zu konzentrieren und die politisch-religiöse Seite zu vernachlässigen." Denn vor allem durch Rückkehrer, die in Syrien und dem Irak für den IS gekämpft haben, gehe auch eine Gefahr von Anschlägen in Europa und den USA aus.
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