Seit dem Einmarsch der Türkei in die syrischen Kurdengebiete nehmen die Spannungen zwischen den USA und der Türkei zu. Der türkische Präsident Erdogan fordert die mit den Kurden verbündeten Amerikaner offen zum Rückzug aus der Region auf. Könnte die Lage zwischen den Nato-Verbündeten eskalieren?

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Dass er um deutliche Worte verlegen ist, kann man dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wahrlich nicht zum Vorwurf machen.

Dies stellte der 63-Jährige nun erneut unter Beweis. Erdogan forderte die USA und Donald Trump auf, die Stationierung von Truppen in der nordwestsyrischen Stadt Manbidsch unverzüglich aufzugeben.

"Los, zieht ab", wetterte Erdogan in Richtung Washington. "Sie müssen sich unverzüglich aus Manbidsch zurückziehen", sprang ihm sein Außenminister Mevlüt Cavusoglu zur Seite.

Die türkische Armee geht mit der "Operation Olivenzweig" seit rund zwei Wochen gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in der Region Afrin vor – und droht, die Operation weiter auszuweiten.

Manbidsch, wo die Amerikaner stationiert sind, liegt östlich des Euphrat, nur rund hundert Kilometer von Afrin entfernt.

Während die Amerikaner mit den syrischen Kurden im Kampf gegen die Terrormiliz IS kooperieren, betrachtet die Türkei die YPG als Ableger der kurdischen Terrororganisation PKK.

USA mahnen zur Zurückhaltung

Die Politikwissenschaftlerin Gülistan Gürbey von der Freien Universität Berlin erklärt im Gespräch mit unserer Redaktion die scharfe Rhetorik der türkischen Regierung mit vier Gründen.

  • "Erstens sind die Beziehungen zu Amerika schon länger angespannt."
  • "Zweitens will Erdogan im Hinblick auf die bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2019 durch Stärke innenpolitische Unterstützung konsolidieren und weiter generieren."
  • "Drittens will er unbedingt ein zusammenhängendes, autonomes kurdisches Gebiet in Nordsyrien an der Südgrenze zur Türkei verhindern und
  • viertens territoriale Einflussgebiete in Syrien mit militärischen Mitteln ausweiten."

Damit wolle der türkische Präsident die eigene Verhandlungsposition bei Nachkriegsregelungen signifikant steigern und hegemoniale Machtbestrebungen durchsetzen.

Erdogan befürchtet, dass eine kurdische Autonomie in Syrien dem Unabhängigkeitskampf der türkischen Kurden wieder Auftrieb geben könnte.

Die Zusammenarbeit der YPG mit den USA ist ihm daher ein besonderer Dorn im Auge, auch wenn Washington kurdische Autonomiebestrebungen nicht unterstützt.

Nach dem türkischen Einmarsch in Syrien hatten sich die USA auffallend zurückgehalten. Washington ermahnte den Nato-Partner lediglich, die Militäroffensive möglichst schonend, zeitlich begrenzt und mit Rücksicht auf Zivilisten zu führen.

US-Außenminister Rex Tillerson erkannte das Recht der Türkei an, "seine Bürger vor terroristischen Elementen zu schützen" und rief beide Seiten – also auch die YPG – zur Zurückhaltung auf.

US-Soldaten in YPG-Uniformen "sind ein Ziel"

Trotz Erdogans Drohung, es werde nach der Militäroffensive in Afrin "weitere Schritte" geben, schätzt Türkei-Expertin Gürbey die Gefahr einer Eskalation zwischen den USA und der Türkei klein ein.

"Die Gefahr, dass es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen beiden Ländern kommen wird, ist äußerst gering. Beide Seiten haben gar kein Interesse daran", sagt sie.

Dass die türkischen Truppen gegen den Willen der USA tatsächlich weitere kurdische Gebiete im Norden Syriens besetzen, sei sehr "unwahrscheinlich".

Erdogan wolle sich letztlich nicht ernsthaft mit dem Verbündeten anlegen. "Er hofft aber durch Druck auf die USA, dass sie ihre Unterstützung für die Kurden abbrechen und den Einmarsch bis nach Manbidsch zulassen", sagt die Türkei-Analystin.

Unterdessen goss der stellvertretende türkische Premierminister Bekir Bozdagm weiter Öl ins Feuer. Nach Angaben der "Huffington Post" sagte er am Sonntag auf dem TV-Kanal CNN Turk: "Falls wir auf amerikanische Soldaten in YPG-Uniformen stoßen, sind sie ein Ziel.”

Russland, das sich zuletzt verstärkt um die Türkei bemühte, dürfte den Konflikt zwischen zwei Nato-Ländern "mit großer Genugtuung" beobachten, so Gürbey. Moskau hofft wegen der türkischen Spannungen mit der Europäischen Union und den USA auf eine weitere Annäherung an Ankara.

"Warnung an Ankara"

Hinter den Kulissen finden weiter Gespräche zwischen Erdogan und Trump sowie den Außenministern beider Staaten statt. "Beide Seiten sind nicht daran interessiert, dass die Beziehungen komplett abbrechen", erklärt Türkei-Expertin Gürbey.

Die USA machten dabei offenbar klar, auch nach dem faktischen Sieg über den IS an ihrer Präsenz in Syrien festhalten zu wollen.

Zuletzt reisten die amerikanischen Generäle Jamie Jarrard und Paul Funk nach Manbidsch. Laut "Süddeutscher Zeitung" ein "Solidaritätsbesuch, der zweifellos als Warnung an Ankara gedacht war".

Nach Schätzung von Experten halten sich derzeit rund 5.000 US-Soldaten im Land auf. Gemeinsam mit dem kurdisch-arabischen Bündnis SDF, dem die YPG angehört, bekämpfen sie die Überbleibsel des IS.

Außerdem wollen sie den wachsenden Einfluss von Milizen aus dem Iran, ein Verbündeter von Syriens Diktator Assad und Russlands, begrenzen.

Die Türkei lehnt eine Nachkriegsordnung in Syrien unter Assad kategorisch ab und hat in der Vergangenheit verschiedene Anti-Regierungsmilizen in Syrien, nach Medienberichten auch den "IS", direkt oder indirekt unterstützt. Das Hauptziel bleibt es aber, die kurdischen Autonomiebestrebungen zu unterbinden. Notfalls auch gewaltsam, wie der aktuelle Militäreinsatz zeigt.

"Trotz gegensätzlicher Ziele und anhaltender Spannungen zwischen den USA und der Türkei", fasst Gülistan Gürbey zusammen, "werden beide Seiten darauf achten, dass es nicht eskaliert."

Ein bewaffneter Konflikt zwischen zwei Nato-Partnern – es wäre eine Zäsur.

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