Nach den zwei schweren Erdbeben am 6. Februar steht in der Türkei politisch und gesellschaftlich die nächste Herausforderung bevor. Am 14. Mai wird ein neuer Präsident gewählt. Für Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan stehen die Chancen so schlecht wie nie zuvor. Türkei-Experte Günter Seufert schätzt im Gespräch mit unserer Redaktion die Lage ein.

Ein Interview

Herr Seufert, wie ist nach den Erdbeben vom 6. Februar die aktuelle Lage in der Türkei?

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Günter Seufert: 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung aus den betroffenen Gebieten sind geflüchtet und bei Verwandten und Freunden in anderen Teilen der Türkei untergekommen. Das erschwert das Hochfahren der Wirtschaft. Die türkische Regierung hat Studentenwohnheime und Erholungsheime leergeräumt und dort viele Erdbebenopfer untergebracht. Gleichzeitig sind die Hotelpreise stark in die Höhe gegangen, viele Hotels sind belegt.

Wie geht es den Menschen? Erhalten sie genügend Hilfe?

Es gibt immer noch zu wenig Container-Unterkünfte. Die Lage hat sich keineswegs beruhigt, seit die ausländischen Rettungs- und Suchtrupps das Land verlassen haben. Es gibt eine hitzige Diskussion darüber, dass die Regierung offensichtlich religiös-konservative Nichtregierungsorganisationen bei Materialausstattung und Zugang zu den Katastrophengebieten bevorzugt hat. Ebenso wird darüber diskutiert, was mit Kindern passiert, die ihre Eltern verloren haben. Man befürchtet, dass sie religiös-konservativen Stiftungen zur Betreuung übergeben wurden.

Eine andere Befürchtung ist, dass ein Erdbeben in Zukunft auch die Millionenstadt Istanbul treffen könnte.

Seit 2019 wird die Stadt von Ekrem Imamoglu regiert, einem Politiker der oppositionellen Republikanischen Volkspartei CHP. Sofort nach dem Beben wurde in Istanbul mit der Vorsorge begonnen: Zehntausende Gebäude wurden auf ihre Erdbebensicherheit überprüft. Für die Überprüfung können sich Hausbesitzer bei der Stadtverwaltung anmelden. Die arbeitet jetzt auf Hochtouren, um sich einen Überblick zu verschaffen, welche Häuser verstärkt und welche abgerissen werden müssen.

Nach dem Erdbeben von 1999 mit über 17.000 Toten wurden Flächen ausgewiesen, wo sich Leute nach einem Erdbeben versammeln können. Seitdem wurden aber viele dieser Sammelflächen zugebaut. Jetzt werden neue ausgewiesen. In Istanbul laufen viele Vorbereitungen – aber die Stadt ist noch lange nicht sicher vor Erdbeben. Da sind Jahrzehnte verschlafen worden.

Bauvorschriften wurden nicht eingehalten

Dem türkischen Vizepräsidenten zufolge sind im Erdbebengebiet im Süden des Landes mindestens 105.000 Gebäude vollständig oder teilweise zerstört, Zehntausende Menschen starben. Hätte die hohe Zahl an zerstörten Gebäuden verhindert und somit Menschenleben gerettet werden können?

Auf jeden Fall. Nach dem Erbeben von 1999 hat die Türkei sehr strenge Bauvorschriften erlassen. Ungefähr die Hälfte der Häuser, die vom jetzigen Beben betroffen waren, wurden später gebaut – und trotzdem klappten so viele zusammen. Der Wurm steckt also im System, da die Bauvorschriften nicht eingehalten wurden, ihre Einhaltung nicht kontrolliert wurde.

Mit einem sogenannten "Baufrieden" erließ Präsident Recep Tayyip Erdogan 2019 eine Amnestie für fehlerhafte Bauten.

Er tat das vor den letzten Kommunalwahlen auch in der Region, die jetzt vom Erdbeben heimgesucht worden ist. Es ging darum, das Bauen zu erleichtern und so Wählerstimmen zu gewinnen. Außerdem hat die regierende Partei AKP vor vier Jahren die Architekten- und Ingenieurskammern aus den Kontrollverfahren für Gebäude hinausgedrängt und allein die Stadtverwaltungen für zuständig erklärt. Damit wurde der Korruption Tür und Tor geöffnet, denn von da an musste nur noch ein Beamter bestochen werden.

Gewinne gingen also vor Menschenleben?

Genau, die Bauunternehmer konnten billig bauen. Andererseits erhielt die AKP dafür Stimmen. In den Erdbebenregionen regieren zu zwei Dritteln AKP-Bürgermeister. Die Regierungspartei ist national und kommunal in der Verantwortung. Gleichzeitig weiß die AKP 35 bis 40 Prozent der Menschen hinter sich. Die schlechte Performance von Erdogan am Anfang der Katastrophe hat die Stammwähler nicht wirklich abgeschreckt. Dafür sind viele bis dahin unentschiedenen Wähler von der Regierungspartei abgerückt. Deswegen liegt aktuell die Opposition in den Umfragen weit vorne (Stand vom 27. März, Anm. d. Red.). Das war vor dem Beben noch ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

Wird der oppositionelle Kandidat Kemal Kilicdaroglu bei den Präsidentschaftswahlen am 14. Mai etwas ausrichten können?

Er ist in den letzten Wochen und Monaten zu einem aussichtsreichen Kandidaten geworden, nachdem er vorher über Jahre eher blass erschien. Er ist ehemaliger Chef der türkischen Sozialversicherungsverwaltung und hat zuvor viele Wahlen auf kommunaler und nationaler Ebene verloren. Doch gerade weil er nicht wie Erdogan als allwissender Alleinherrscher auftritt, konnte er sechs verschiedene Oppositionsparteien an einen Tisch bringen, sodass diese nun als Bündnis gegen Erdogan antreten. Er brachte mehr Ruhe, Inhalt und politischen Konsens in die hitzigen Debatten. Er zeigte gleich nach den Beben in den betroffenen Gebieten Präsenz, stellte die richtigen Forderungen und kritisierte die Regierung sehr entschlossen. Kilicdaroglu erscheint wie ein Anti-Erdogan, weniger populistisch, eher wie ein Teamplayer.

Durch ihn öffnet sich die CHP auch gegenüber Konservativen und Kurden.

Die CHP war früher eine strikt säkulare Partei, die die Religion stark marginalisierte. Dafür hat sich Kilicdaroglu bei den Gläubigen offiziell entschuldigt, was ein großer Schritt für die Partei ist. Innerhalb des Oppositionsbündnisses spricht er am konstruktivsten auch mit der pro-kurdischen Partei, sodass diese nun keinen eigenen Kandidaten ins Rennen schickt, sondern Kilicdaroglu unterstützt. Das ist ein Riesenerfolg.

"Trotz vieler Rückschläge gilt Erdogan noch immer als Macher"

Die Wirtschaftskrise ist längst in der türkischen Mittelschicht angekommen. Die Inflation, die der Präsident durch Zinssenkungen selbst befeuerte, liegt laut offiziellen Zahlen über 50 Prozent, laut unabhängigen Instituten weit höher. Hält das Versprechen der Erdogan-Partei AKP noch, den Lebensstandard der Massen zu erhöhen?

Das Vertrauen in Erdogans wirtschaftliche Kompetenz ist stark zurückgegangen. Gleichwohl legt er gerade Programme auf, wie die Anhebung des Mindestlohns oder das Senken des Renteneintrittsalters. Mit solchen Geldgeschenken, die den Staatshaushalt extrem belasten, versucht er die Wähler bei Stange zu halten. Trotz vieler Rückschläge gilt er noch immer als Macher. Schnell lässt er nun neue Wohnungen und Straßen bauen und versucht durch Aktivismus Boden gutzumachen. Der Opposition wirft er Handlungsunfähigkeit vor, weil zu viele Parteien keine Entscheidungen treffen könnten. Er dagegen habe bewiesen, dass er Brücken, Eisenbahnen und Autobahnen bauen könne. Das ist seine Wahlkampfstrategie.

Könnte diese Strategie aufgehen?

Bisher zeigen die Umfragen das nicht. Aber es ist schwierig für die Opposition, in allen Bereichen eine einheitliche Politik zu fahren. Nicht nur, was die Kurden-Frage angeht, sondern auch in der Wirtschafts- und Außenpolitik. Keine dieser Parteien war in den letzten 20 Jahren an der Macht, sondern sie haben sich in ideologischen Grabenkämpfen getummelt. Aber noch haben sie einen Monat Zeit bis zur Wahl.

Wie realistisch ist es, dass Erdogan abgelöst wird?

Im Augenblick hat die Opposition eine realistische Chance. Die Regierung hat die Möglichkeit verloren, außenpolitische Krisen zu produzieren. Das sieht man etwa an der veränderten Tonlage Griechenland gegenüber. Denn während Erdogan vor dem Erbeben gedroht hat, in eine der griechischen Inseln im östlichen Mittelmeer einzumarschieren, ist davon jetzt nichts mehr zu hören.

"Es sieht so aus, als ob es einen Wechsel geben könnte"

Und innenpolitisch?

Rätselhafte Terroranschläge können immer noch passieren, mit denen die AKP versucht, die Bevölkerung hinter sich zu vereinen – aus Angst vor einer Eskalation im Kurden-Konflikt. Trotzdem sieht es gerade so aus, als ob es einen Wechsel geben könnte.

Würde der Präsident eine Wahlniederlage akzeptieren?

In der Türkei sind die Leute optimistisch, dass er eine Niederlage anerkennen würde, wenn das Wahlergebnis nicht zu knapp ausfällt. Viele rechnen aber damit, dass die Regierung versucht, das Ergebnis zu manipulieren. Dagegen mobilisiert die Opposition Wahlbeobachter. Sollte Erdogan verlieren, könnte er versuchen, ein Comeback nach drei bis sechs Monaten zu landen, wie Netanjahu in Israel. Das ist das wahrscheinlichste Szenario, weil er weiß, dass die Opposition vor gewaltigen Herausforderungen steht – die schnell Unzufriedenheit in der Bevölkerung auslösen können. Dass er wegen der großen Korruptionsskandale in seiner Amtszeit vor ein Gericht kommt, davon geht niemand aus. Da wird es genügend Kräfte im Staatsapparat geben, die das verhindern.

Verwendete Quellen:

  • tagesschau.de: Türkei beendet fast alle Rettungseinsätze
Über die Person: Günter Seufert ist Türkei-Experte an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Außerdem arbeitete er als Freier Journalist in Istanbul.
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