Kemal Kilicdaroglu will den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan beerben - die beiden müssen in die Stichwahl. Wie tickt der Herausforderer?

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Es gibt nur wenige türkische Politiker, die bereits mit so vielen Spitznamen bedacht wurden wie Kemal Kilicdaroglu. Als "Gandhi-Kemal" – aufgrund einer gewissen Ähnlichkeit in Aussehen und Stil mit Mahatma Gandhi –, als "ruhige Macht" wegen seines zurückhaltenden Auftretens oder sogar als "neuer Kemal" – in Anspielung auf den Republikgründer Mustafa Kemal – bezeichnen ihn vor allem jene, die es gut mit ihm meinen.

Andere, wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, verspotten ihn hingegen gerne mit der veralteten Anrede "Bay Kemal" (Herr Kemal). Zuletzt, als sich der Ton im Wahlkampf-Endspurt verschärft hatte, ließ sich der Amtsinhaber gar zu Beleidigungen seines politischen Gegners hinreißen, beschimpfte seinen Herausforderer vor Hunderttausenden Anhängern in Istanbul als "Säufer und Betrunkenen". Er warf dem Oppositionsführer zudem einmal mehr vor, mit "Terroristen" zusammenzuarbeiten.

Kilicdaroglu: "Stehen kurz davor, den Tyrannen vom Thron zu stürzen"

Kilicdaroglu, der 74-jährige Chef der größten Oppositionspartei CHP, will einen hitzigen Wahlkampf gewinnen und den amtierenden Präsidenten Erdogan in der Stichwahl am 28. Mai ablösen. "Wir stehen kurz davor, den Tyrannen vom Thron zu stürzen", kündigte Kilicdaroglu vor den Wahlen an. "Gemeinsam werden wir diesen Wahnsinn beenden."

Zumindest war die Wahrscheinlichkeit für einen Regierungswechsel lange nicht mehr so hoch. Nach über 20 Jahren AKP-Herrschaft sind viele Türken der Herrschaft Erdogans überdrüssig.

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Dass die schon länger anhaltende Wirtschaftskrise aufgrund von Inflationsraten jenseits der 50-Prozent-Marke auch den normalen Bürger erreicht hat, hat auch Erdogans Ansehen beschädigt. Teile der Mittelschicht drohen in die Armut abzurutschen. Dazu kommt das haarsträubende Krisenmanagement der Erdogan-Regierung nach dem Erdbeben im Süden der Türkei am 6. Februar, mit dem sich der Präsident in den Augen vieler Türken blamiert hat. Selten befand sich Erdogan, der mit einer Machtfülle ausgestattet ist wie kein anderer Staatschef eines Nato-Landes, derart in der Defensive.

Erdogan bekam in den Umfragen Gegenwind

Ein Befund, der sich messen lässt: Noch Ende Februar lag Erdogan in einer Umfrage des Instituts Areda bei 49,9 Prozent, weit vor Kilicdaroglu, der lediglich auf 21,7 Prozent kam. Mit der Kandidatur des CHP-Chefs drehte der Wind: Kilicdaroglu lag kurz vor der Wahl laut des Instituts Aksoy bei 55,6 Prozent, die Forscher des Instituts Piar sahen ihn sogar bei 57,1 Prozent. Erdogan lag in denselben Umfragen bei 43 bis 44 Prozent.

Damit honorierten die Wähler offenbar, dass Kilicdaroglu etwas geglückt ist, was lange als unmöglich galt: Die in der Türkei notorisch zerstrittene Opposition zu vereinigen. Monatelang hatten die sechs Oppositionsparteien darum gerungen, wen sie ins Rennen gegen Erdogan schicken, weil klar war, dass nur ein Schulterschluss eine Siegchance bietet.

Über ein Jahr lang nahmen sich die Parteien für den Prozess, den sie als "Sechsertisch" bezeichneten, Zeit. Weil die zweitgrößte Partei am Tisch - die nationalistisch orientierte Iyi-Partei - Kilicdaroglu jedoch als Kandidaten ablehnte, wurde auf der Zielgeraden aus dem Format fast ein "Fünfertisch". Offiziell argumentierte man, dass mit Kilicdaroglus zurückhaltender Art kein Blumentopf zu gewinnen sei. Inoffiziell hätte Iyi-Chefin Meral Aksener wohl selbst gerne kandidiert. Nach vielen Verhandlungen und mit der Aussicht auf weitere fünf Jahre Erdogan raufte man sich aber zusammen. Dass Aksener bei einem Wahlsieg Kilicdaroglu zur "Stellvertretenden Präsidentin" aufsteigt, dürfte zum Sinneswandel beigetragen haben.

In den harten Verhandlungen mit den Streithähnen der Opposition dürfte Kilicdaroglu sein ruhiges, von manchen als stoisch beschriebenes Naturell geholfen haben, das seine Frau Selvi einmal so beschrieben hat: „Er ist nett und sehr ruhig, ein bisschen zu ruhig." Er werde nie laut, "man kann nicht mal einen richtigen Streit mit ihm haben".

Kilicdaroglus Strategie: Abgrenzung

Es sind diese Eigenschaften, derentwegen Kilicdaroglu in diesen Tagen gerne als "Anti-Erdogan" präsentiert wird. Als Mann, der unterschiedliche Positionen zusammenführen kann, wo Erdogan Kritiker lieber vom politischen Diskurs ausschließt oder gleich wegsperrt.

Videobotschaften für seine Anhänger zeichnet Kilicdaroglu bevorzugt in seiner Wohnküche auf, die sich nur wenig von der Einrichtung der Durchschnittstürken unterscheidet. So inszeniert er sich als ein Mann des Volkes, der, anders als Erdogan, keine ausgeprägte Sucht nach Prunk und Luxus hat. Es ist eine Art des Politikmachens, die nicht bei jedem Türken gut ankommt: Kilicdaroglu gilt als der Politiker, auf den in der Geschichte des Landes die meisten tätlichen Angriffe verübt wurden, darunter ein Lynchversuch, ein bewaffneter Angriff durch die Kurdenmiliz PKK, ein Angriff im Parlament sowie ein versuchter Bombenanschlag durch den Islamischen Staat (IS).

Kilicdaroglus ungewöhnlicher Weg in die Politik

Dass der 1948 im ostanatolischen Tunceli geborene Kilicdaroglu von vielen Türken als ehrlich, zuverlässig und integer wahrgenommen wird, liegt auch an seinem ungewöhnlichen Weg in die Politik: Der studierte Ökonom kletterte die Karriereleiter im türkischen Finanzministerium hinauf und erwarb sich dort den Ruf als einer der wichtigsten Anti-Korruptions-Kämpfer des Landes.

Seine politische Karriere begann, als er für die sozialdemokratische CHP einen Korruptionsbericht vorbereitete, der bei dem damaligen Vorsitzenden Deniz Baykal so gut ankam, dass er ihm eine Kandidatur ermöglichte. In das türkische Parlament zog Kilicdaroglu erstmals 2002 ein - das Jahr, in dem Präsident Erdogan an die Macht kam. Als Baykal 2010 wegen eines Sex-Skandals sein Amt zur Verfügung stellte, setzte sich Kilicdaroglu an der Spitze der Partei durch.

Bekannt wurde Kilicdaroglu auch durch einen "Gerechtigkeitsmarsch", an dessen Spitze er 2017 knapp 450 Kilometer von Ankara nach Istanbul marschierte und der auf Korruption in der türkischen Gesellschaft hinweisen sollte. Dass dieser Auftritt an Mahathma Gandhis berühmten Salzmarsch im Kampf für die indische Unabhängigkeit erinnerte, war vermutlich kein Zufall.

Bislang gilt Kilicdaroglu als ewiger Verlierer

Doch reicht das, um Präsident Erdogan vom Thron zu stoßen? Blickt man auf Kilicdaroglus Bilanz als Vorsitzender der CHP, dann ist Iyi-Chefin Meral Akseners Argument, dass der 74-Jährige der falsche Kandidat gegen den polarisierenden Erdogan sein könnte, nicht ganz von der Hand zu weisen.

Kilicdaroglus hohe Sympathiewerte sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass er in den 13 Jahren an der Spitze der CHP eine Niederlage nach der anderen gegen Erdogans AKP kassiert hat. Das dürfte einerseits daran liegen, dass er in dieser Zeit kein Konzept gefunden hat, seine Partei für neue Wähler zu öffnen.

Viele kennen nur ein Leben mit Erdogan als politischem Oberhaupt

Gleichzeitig erkennen viele Türken nach wie vor den auch innerhalb der EU geschätzten wie gefürchteten Erdogan-Pragmatismus an - nach 20 Jahren an der Macht leben in der Türkei viele Menschen, die nur mit Erdogan als politischem Oberhaupt aufgewachsen sind. Sie respektieren den Langzeit-Präsidenten als Problemlöser, der zum wirtschaftlichen Aufstieg der Türkei beigetragen hat.

Als nach den verheerenden Erdbeben ein Sturm der Kritik über die Regierung unter Erdogan hinwegfegte, sahen viele deren Ende gekommen. Doch nun, wenige Tage vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, ist davon Umfragen zufolge kaum eine Spur geblieben: Nach kurzweiligen Verlusten im April lag die Zustimmung des Bündnisses um Erdogan und seiner AKP laut mehreren Umfragen durch das Institut Türkiye Raporu wieder bei Werten wie vor der Erdbebenkatastrophe.

Was hat Kilicdaroglu vorzuweisen?

Kilicdaroglu ist in dieser Zeit nicht viel mehr gelungen, als sich an der Parteispitze zu halten – was ohne exekutive Erfahrung kein wahnsinniges Pfand ist, um Präsident zu werden.

Dazu kommt: Um Präsident zu werden, ist Kilicdaroglus zurückhaltendes Naturell nicht unbedingt ein Vorteil. Die politische Kultur in der Türkei ist geprägt von charismatischen Führungspersonen und der Sehnsucht nach starken Führern, zumal die Wahl in einem Präsidialsystem stattfindet. Der Titel "Bürokrat des Jahres", wenn auch freundlich gemeint, ist in diesem Zusammenhang nicht unbedingt ein Bewerbungsschreiben. Und mit seinen 74 Jahren lässt sich Kilicdaroglus Kandidatur auch nur bedingt als jener Aufbruch verkaufen, den so viele Oppositionelle in der Türkei herbeisehnen.

Kilicdaroglu und seine CHP, die in Deutschland am ehesten mit den Sozialdemokraten zu vergleichen ist, wird seine Wähler daher inhaltlich überzeugen müssen. Das Oppositionsbündnis hat angekündigt, die beiden prominentesten politischen Gefangenen der Türkei, den Bürgerrechtler Osman Kavala und den Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas, freizulassen.

Sie wollen die Unabhängigkeit der Justiz wiederherstellen und die Achtung der Bürgerrechte durchsetzen. Außerdem soll die Türkei Erdogans Präsidialsystem hinter sich lassen und zu einer parlamentarischen Demokratie zurückkehren. Einen allmächtigen Kilicdaroglu will der türkische Gandhi also gar nicht erst zulassen.

(Dieser zuletzt im April veröffentlichte Artikel wurde aus aktuellem Anlass überarbeitet und aktualisiert.)

Verwendte Quellen:

  • economist.com: The Economist - Meet Turkish President Erdogan’s presumptive challenger (Bezahlinhalt)
  • ekathimerini.com: Polls show Erdogan lags opposition by more than 10 points ahead of May vote
  • ft.com: Financial Times: Turkey’s opposition candidate faces uphill battle to challenge Erdoğan
  • twitter.com: Twitter-Account von Kemal Kilicdaroglu
  • Material der Nachrichtenagentur dpa
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