Seit rund zwei Wochen erschüttern massive Unruhen das französische ÜberseegebietNeukaledonien. Es gibt mehrere Tote, Dutzende sind verletzt. Auslöser war eine Verfassungsreform, die in Paris geplant wurde. Experte Jacob Ross ordnet die Geschehnisse ein und erklärt, warum das Interesse Frankreichs an der kleinen Inselgruppe so groß bleibt.
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.
Ausgebrannte Autos, festsitzende Touristen, geplünderte Geschäfte: Im französischen ÜberseegebietNeukaledonien erinnert derzeit nichts an den Traumort, nach dem die Inselgruppe normalerweise aussieht. Statt weißen Sandstränden und glasklarem Wasser wird das Bild von Neukaledonien derzeit von Polizei, Militär und Chaos geprägt.
"Die Befürchtung der autochthonen Bevölkerung, der Kanak, ist, dass durch diese Ausweitung und die Vergrößerung der Wählerschaft die europäischen Zuwanderer oder ihre Nachkommen noch mehr Gewicht gewinnen in den regionalen Wahlen, als sie ohnehin schon haben", erklärt Politikwissenschaftler Jacob Ross. Die indigenen Kanak machen rund 40 Prozent der 270.000 Einwohner der Insel aus.
"In den vergangenen sechs Jahren wurden drei Referenden über die Unabhängigkeit abgehalten, aber jedes Mal wurde die Unabhängigkeit von Frankreich von einer Mehrheit abgelehnt", sagt Ross. Allerdings hätten die indigenen Kanak das letzte Referendum im Jahr 2021 boykottiert.
"In den 1980er-Jahren gab es bereits vergleichbare Unruhen, allerdings hat sich danach die Lage beruhigt und die Wirtschaft hat sich positiv entwickelt", sagt Ross. Nun bestehe die Sorge bei Beobachtern, dass durch die Ausschreitungen ein Misstrauen zurückkehrt – "dass die Europäer den Autochthonen misstrauen und andersherum. Und dass in ihrem Miteinander jetzt etwas kaputtgegangen ist", erklärt der Experte.
In Paris werde deshalb darüber gestritten, ob das geplante Gesetz tatsächlich kommen soll. Manche Stimmen forderten, zunächst einen neuen Friedens- oder Verhandlungsprozess in Neukaledonien mit allen Seiten zu führen.
"Bisher scheint die Linie des Präsidenten und der Regierung aber zu sein, dass man an dem ursprünglichen Termin für die Abstimmung zur Verfassungsänderung festhält", sagt Ross. Sollte das der Fall sein, dürfte die Gewalt aus seiner Sicht wieder aufflammen. "Dann könnte es erneut zu Ausschreitungen kommen."
Paris hat laut des Experten ein geopolitisches und militärisches Interesse an der Inselgruppe. "In Neukaledonien gibt es einen für Frankreich sehr wichtigen Hafen und Luftwaffenstützpunkt", sagt Ross. Frankreich sehe sich selbst als indopazifische Macht und als bedeutenden Faktor, etwa bei der Eingrenzung der chinesischen Ansprüche in der Region.
Außerdem werden in Neukaledonien rund 20 Prozent der globalen Nickel-Vorkommen vermutet. "Derzeit ist es nicht wirtschaftlich, sie auszubeuten, weil sie oft auf dem Meeresgrund liegen oder schwer zugänglich sind. Frankreich spekuliert aber, dass diese Vorkommen in Zukunft ausgebeutet werden können", erklärt der Experte. Da Nickel ein wichtiger Rohstoff ist, etwa bei der Batterieproduktion, gehe es um große staatliche Interessen.
Mischt China mit?
Eine mögliche UnabhängigkeitNeukaledoniens und damit auch Neuverhandlungen zur französischen Präsenz in diesem Territorium seien nicht im Interesse Frankreichs. "Aber im Interesse anderer, zum Beispiel Chinas", sagt Ross. Bereits jetzt gebe es in Frankreich immer wieder Spekulationen und Vorwürfe gegenüber China, dass Peking dort auch seine Finger im Spiel habe und versuche, die Unabhängigkeitsbestrebungen der Kanak zu unterstützen.
"Bei den aktuellen Ausschreitungen gab es auch den Vorwurf, dass Aserbaidschan dort mitgewirkt hat", sagt Ross weiter. Tatsächlich hat Aserbaidschan in der Vergangenheit mehrmals Konferenzen ausgerichtet und Delegationen aus Neukaledonien von den Kanak empfangen. "Diese aserbaidschanische Einmischung wird meist darauf zurückgeführt, dass Frankreich in den vergangenen Monaten wiederum seine Unterstützung für Armenien sehr ausgebaut hat nach dem Karabachkrieg", sagt Ross.
Umgang mit kolonialer Vergangenheit
Erst kürzlich sei in Frankreich ein Gesetz in den Senat eingebracht worden, welches die Einmischung fremder Mächte in die französische Politik besser überwachen und einschränken soll. "Die Geheimdienste sollen zum Beispiel mehr Spielräume haben. Da ist die vermutete Einmischung in Neukaledonien mit Sicherheit eine der Motivationen gewesen", so Ross.
Aus seiner Sicht werfen die Vorgänge in Neukaledonien aber noch eine ganz andere Frage auf – nämlich die nach dem französischen Umgang mit seiner kolonialen Vergangenheit und seinen Überseegebieten. "Die indigenen Kanak werfen Frankreich vor, sich jetzt wieder neokolonial zu benehmen", sagt Ross. Sie kritisierten, dass eine Zweiklassengesellschaft zwischen europäischen Staatsbürgern und den Indigenen aufrechterhalten werde.
Prekäre Verhältnisse in Übersee
"Macron hat zwar eine Menge in Sachen Erinnerungspolitik getan, aber teilweise gibt es immer noch einen sehr unkritischen und glorifizierenden Blick in Frankreich auf koloniale Kriege und Eroberungen", gibt Ross zu Bedenken. Im französischen Überseedepartment Mayotte herrschten außerdem extrem prekäre Lebensverhältnisse.
"Ein großer Teil der Bevölkerung lebt ohne direkten Zugang zu sauberem Trinkwasser – und das auf französischem Staatsgebiet. Für uns wäre es unvorstellbar, dass es beispielsweise ein deutsches Bundesland gibt, wo Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben", sagt Ross. Hier müsse Frankreich Antworten finden – auch über die Unruhen in Neukaledonien hinaus.
Über den Gesprächspartner
Jacob Ross ist Research Fellow bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) mit Fokus auf Frankreich und deutsch-französische Beziehungen. Zu seinen Forschungsgebieten zählt die französische Außen- und Sicherheitspolitik.
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