Am Mittwoch stimmt die russische Bevölkerung über die größte Verfassungsänderung der Geschichte des Landes ab. Unser Überblick zeigt, warum das Referendum so richtungsweisend ist, weshalb Präsident Wladimir Putin bisher vor einer Verfassungsreform zurückschreckte und warum die Änderungen widersprüchlich sind.
Das Coronavirus hat
Um einen möglichen Andrang in den Wahllokalen zu verhindern, darf bereits seit vergangenem Donnerstag abgestimmt werden. Deutlich länger wirbt die Regierung im Fernsehen und landesweit auf großflächigen Plakaten für die Annahme des gigantischen Änderungspaketes.
Putins Zustimmungswerte sanken während der Coronakrise
Der Zeitpunkt könnte aber nicht ungünstiger sein, Putins Zustimmungswerte sind während der Coronakrise stark gesunken. Eine Ablehnung der umfassenden Anpassungen steht trotzdem außer Frage, gerade weil die Auswirkungen so weitreichend sind.
Denn die Verfassungsreform gibt Putin nicht nur die Möglichkeit, nach dem Ende seiner derzeit laufenden bereits vierten Amtszeit im Jahr 2024 für zwei weitere Amtszeiten zu kandidieren. Sie ist auch mit Versprechungen auf höhere soziale Leistungen gekoppelt.
Unser Überblick zeigt, warum das Referendum so richtungsweisend ist, weshalb Putin bisher vor einer Verfassungsreform zurückschreckte und warum die Änderungen "widersprüchlich" sind, wie Verfassungsrechtlerin und Russland-Expertin Caroline von Gall unserer Redaktion erklärte.
Wie kam die neue Verfassung zustande?
Nur wenige Tage nachdem Putin am 15. Januar in einer Ansprache an die Föderalversammlung zur Ausarbeitung von Verfassungsreformen aufgerufen hatte, stellte er selbst einen Verfassungsentwurf vor, den er zusammen mit einer Expertengruppe erarbeitet hatte.
Am 10. und 11. März beschlossen dann das russische Parlament und der Föderationsrat die Grundgesetzänderungen, die sich zum Großteil an den Plänen Putins orientieren, im Eiltempo. Und abermals nur wenige Tage später, am 16. März, segnete das russische Verfassungsgericht die Reform endgültig ab.
In der Vergangenheit hat Putin immer wieder betont, die Verfassung nicht anrühren zu wollen – warum ist das diesmal anders?
Noch 2018 sagte Putin in einem NBC-Interview, er habe die Verfassung "nie meinen Bedürfnissen angepasst" und er habe auch keine solchen Pläne. Nun begründet der Kremlchef die Reformen damit, dass es in der Bevölkerung "den Wunsch nach Veränderungen" gebe.
"Umfragen zeigen, dass die russische Bevölkerung ein diffuses Bedürfnis nach Wandel hat. Das könnte zu einem Problem für Putin werden", bestätigte der Politikwissenschaftler Fabian Burkhard in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung".
In Russland seien in den vergangenen Jahren vielfach bereits Debatten über mögliche Verfassungsänderungen angestoßen worden, "das wird nun stärker gelenkt", erklärte die Russlandexpertin von Gall unserer Redaktion bereits im Januar zu den Gründen des plötzlichen Sinneswandels. "Putin bringt die Debatte unter Kontrolle", betonte die Professorin für Ostrecht an der Uni Köln.
"Putin stand vor einem Dilemma", sagt von Gall nun. Einerseits hänge das Regime von der persönlichen Macht Putins ab. Andererseits verbat ihm die Verfassung eine neue Amtszeit, er konnte diese aber "nicht einfach übergehen", erklärt von Gall. Denn die Verfassung legitimiert seinen herausgehobenen Status in Russland.
Die Lösung: Putin "verkleidet die Amtszeitverlängerung in der Verfassung in viele andere Änderungen, die zusätzlich Zustimmung erzeugen sollen". So werden durch die Verfassungsreform soziale Leistungen versprochenen. "Sie stehen jetzt im Zentrum der Kampagne", bemerkt von Gall.
Was sind die zentralen Punkte der russischen Verfassungsreform?
Es ist das vierte Referendum in der Geschichte der Russischen Föderation – und das erste seit fast drei Jahrzehnten. Zuletzt votierten die russische Bevölkerung im Dezember 1993 in einer Volksabstimmung für die damals neue und bis dato gültige Verfassung.
Am 1. Juli wird nun über die bisher weitreichendsten Änderungen abgestimmt, insgesamt werden 14 Paragrafen geändert. Die wichtigsten Anpassungen im Überblick:
- Die Verfassung begrenzt künftig die Amtszeiten des Präsidenten auf zwei. Allerdings gibt es für Putin einen Sonderpassus: Die bisherigen vier Amtszeiten des Kremlchefs seit 2000 werden kurzerhand wieder auf null gesetzt. Weil das höchste Staatsamt künftig mit deutlich mehr Machtbefugnissen ausgestattet ist, soll Putin nach Auffassung der Staatsduma (dem Unterhaus des Parlaments) die Möglichkeit erhalten, sich um diesen "praktisch neuen Posten" zu bewerben.
- Außerdem werden die Bedingungen für Präsidentschaftsbewerber verschärft: Sie müssen nun 25 Jahre vor ihrer Kandidatur in Russland gelebt haben und dürfen noch nie eine ausländische Staatsbürgerschaft oder eine Aufenthaltsgenehmigung in einem anderen Land besessen haben. Das schließt faktisch alle ins Ausland geflohenen Oppositionellen aus.
- Die Gewaltenteilung wird geschleift und das Staatsoberhaupt bekommt mehr Befugnisse gegenüber dem Verfassungsgericht, hochrangigen Staatsanwälten und seinem Ministerkabinett.
- Außerdem wird der Staatsrat aufgewertet. Er war bisher gar nicht in der Verfassung festgeschrieben. Der Staatsrat wird künftig neben dem bisher sehr einflussreichen Sicherheitsrat ein zweites Beratungsgremium in unmittelbarer Nähe zum Präsidenten bilden.
Doch nicht nur das Institutionengefüge wird verändert, auch soziale Garantien werden nun fest im Grundgesetz verankert. Diese "Zuckerchen", wie sie Russland-Experte Burkhardt nennt, sind ein gezielter Anreiz, um die Bürger zu mobilisieren. So muss der Mindestlohn in Zukunft höher als das Existenzminimum sein und Renten werden mindestens einmal im Jahr indexiert.
Daneben soll der "Gottesglauben" in der Verfassung verankert werden – obwohl Russland ein säkularer Staat ist. Wie auch die Festschreibung der Ehe als Verbindung nur zwischen Mann und Frau zielt das darauf ab, die konservative Stimmen zu aktivieren.
Warum sind die Verfassungsänderungen widersprüchlich?
Die Verfassung wird nicht komplett neu geschrieben, sie wird vor allem durch etliche neue Punkte ergänzt. Das sorgt für Unstimmigkeiten, wie von Gall erklärt. "Während im nicht geänderten ersten Grundsatzteil die Gewaltenteilung geschützt wird, wird die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz durch die Änderungen der einzelnen Kompetenzvorschriften stark zugunsten des Präsidenten geschwächt."
Von Gall zufolge stehe der unangetastete erste Teil – zumindest in der Theorie – weiterhin für Freiheit und Pluralismus. Im Gegensatz dazu stehen die Ergänzungen, die nun den Schutz eines konservativen Familienverständnisses, eines bestimmten Geschichtsbildes und den Gottesbezug festschreibt.
Warum sollen die Bürger in einem Referendum über die Annahme der Verfassung entscheiden?
Ein solcher Schritt ist eigentlich gar nicht nötig. Doch so könne Putin sagen, "dass letztlich das Volk entschieden habe", erklärt von Gall. Ihm gehe es darum, die Verfassung als Legitimationsgrundlage zu nutzen und darauf verweisen zu können.
Das dem Volk überlassene Votum gibt dem Vorhaben eine demokratische Fassade, Putin kann sich als Mann des Volkes gerieren. So versicherte Putin in einer Fernsehansprache am vergangenen Dienstag: Die neue Verfassung werde nur inkrafttreten, "wenn die Bürger für sie stimmen".
Einen weiteren Grund für die Volksabstimmung nennt die wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), Gwendolyn Sasse: "Die Wahlbeteiligung beziehungsweise die Diskrepanz zwischen der offiziellen und der zu beobachtenden Teilnahme kann ein Gradmesser für das politische Interesse und die Stimmung in der Bevölkerung sein."
Was sind die gravierendsten Folgen der Änderungen?
"Die Verfassung von 1993 verliert ihren Geist", sagt von Gall. "Auch wenn viele freiheitsschützende Rechte in der Praxis nicht durchsetzbar waren, konnte man sich auf sich berufen." Das Regime bekomme nun durch die Änderungen neue Legitimation. "Die bisherige Verfassungspraxis wird in die Verfassung hineingeschrieben", erläutert die Russland-Expertin.
Aus der "eigentlich recht liberalen Jelzin-Verfassung" werde so in vielen Teilen eine "anti-liberale Putin-Verfassung".
Wie lange wird Putin Russland noch regieren?
Mit der Änderung des Grundgesetzes bekommt Putin die Möglichkeit noch 16 Jahre bis 2036 an der Macht zu bleiben. Putin wäre dann 83 Jahre alt. Die Chefin des russischen Föderationsrates, Walentina Matwijenko, lobte die "Annullierung" der bisherigen Amtszeiten Putins. Das ermögliche politische Stabilität und soziale Sicherheit in Russland.
Zugleich bleibt aber das größte Problem bestehen. "Das ganze System ist auf ihn zugeschnitten: Putin ist unersetzlich", erklärte Janis Kluge, Russland-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, unserer Redaktion mit Blick auf die immer wieder nach hinten verschobene Nachfolgefrage.
Bisher lässt der Kremlchef offen, ob er bei der nächsten Präsidentschaftswahl im 2024 antritt. "Ich habe für mich noch nichts entschieden", sagte Putin vor Kurzem in einem Film des Staatsfernsehens Rossija 1. "Ich schließe die Möglichkeit nicht aus zu kandidieren, wenn es die Verfassung möglich macht. Schauen wir mal." Ein echter Konkurrent für ihn ist nicht in Sicht.
Verwendete Quellen:
- Webseite des Kremls: "Law on amendment to Russian Federation Constitution"
- Verfassungsblog: "Der Wille des Volkes: Zur aktuellen russischen Verfassungsreform"
- Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien: "Russland: Verfassungsreform ist Absicherung und Risiko zugleich"
- Süddeutsche Zeitung: "Eine eher sowjetische Anmutung"
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