Nach dem Platzen der Jamaika-Sondierungen gibt es zahlreiche Schuldzuweisungen an die FDP. Christian Lindner, heißt es, habe das Scheitern der Gespräche publikumswirksam inszeniert, um bei Neuwahlen mehr Wählerstimmen zu holen. Doch diese Beurteilung teilen nicht alle Experten. Und möglicherweise werden vom Verhandlungsende andere profitieren.
Christian Lindner sei nicht willens gewesen, zu regieren, urteilt der Grünen-Politiker Jürgen Trittin über die Beendigung der Sondierungsgespräche durch den FDP-Chef in der Nacht zum Montag.
Auch andere Beobachter rügen die Liberalen. Im "Spiegel" ärgert sich Michael Hüther vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) über die Freidemokraten: Die FDP, so der Instituts-Chef, habe "keine überzeugenden Gründe" für ihren Ausstieg aus den Verhandlungen genannt.
Hartnäckig hält sich die Spekulation, die Entscheidung der FDP habe lange festgestanden, bevor
Stimmt's? Was bezwecken der FDP-Chef und seine Partei? Im Gespräch mit unserem Portal urteilen zwei Experten sehr unterschiedlich.
"Wer die Erklärung gesehen hat am Sonntagnacht, dem war sofort klar, das war vorbereitet – so kann man nicht aus dem Stegreif formulieren", sagt Professor Werner Weidenfeld, Politikwissenschaftler an der Universität München. "Die FDP hat gespürt, dass sie keinen leichten Gang vor sich hat, und hatte mittelfristig den Ausstieg schon vorbereitet."
"Die FDP konnte da nicht mitmachen"
Dem widerspricht Politikwissenschaftler Professor Oskar Niedermeyer von der Universität Berlin: Die FDP habe "von Anfang an deutlich gemacht, dass sie ihre Prinzipien nicht aufgeben will für einen oder zwei Ministerposten", sagt er. Weder Angela Merkel noch die Union insgesamt hätten diese Haltung in den Verhandlungen ausreichend berücksichtigt.
Die FDP habe deutliche Kompromissvorschläge gemacht, seit etwa von der großen Steuerreform abgerückt. Dennoch sei die Partei nicht ernst genommen worden, als es um die Abschaffung des Solidaritätszuschlags ging.
Gerüchten zufolge ist die Union der FDP auch in ihren jüngsten Vorschlägen zum Thema Steuer nicht entgegengekommen. Sofern dies zutreffe, sei völlig klar, "dass die FDP da nicht mitmachen konnte", so Niedermeyer.
Ging es den Liberalen also einzig um Inhalte? Nein, glaubt Wissenschaftler Weidenfeld. "Lindner hatte von vorneherein ganz andere Ziele als angegeben." Sein Motiv sei sehr einfach zu erklären: "Der Mann will Erfolg haben!"
Lindner wolle nicht noch einmal erleben, dass die FDP aus der politischen Landschaft nahezu verschwindet, wie das 2013 geschah, als die Partei an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte und den Einzug in den Bundestag verpasste.
Stattdessem wolle er nach dem Erfolg bei der Bundestagswahl "sein Wählerpolster ausbauen – auch mit spektakulärem Agieren wie dem publikumswirksamen Platzenlassen der Gespräche."
Lindner "ein sehr guter Selbstdarsteller"
Ob dieses Vorgehen beim Wähler ankommt, hält Weidenfeld für kaum vorhersehbar. Wenn die FDP sich aus weiteren Verhandlungen ausschließe, könne ihr das mittelfristig Erfolge beim Wähler bringen, sie könne aber ebenso gut "grandios scheitern."
Lindner sei zwar ein "sehr guter Selbstdarsteller und ein sehr guter Rhetoriker – aber ob er seinen Ruf langfristig halten kann, ist völlig offen."
Außerdem lasse das Scheitern der Verhandlungen beim Wähler Zweifel an der Kompetenz "der gesamten politischen Klasse" wachsen – "darunter wird die FDP dann ebenfalls leiden."
Oskar Niedermeyer hält dagegen: Nicht die FDP habe sich aus der Verantwortung geschlichen, sondern die SPD, die sich von Anfang an verweigert habe. Die FDP dagegen habe sich konsequent verhalten.
Wenn die Partei deutlich machen könne, dass es ihr um das "konsequente Festhalten an einer liberalen Handschrift" gehe, wie sie es "von Anfang an gefordert" habe, dann werde das möglicherweise beim Wähler gut ankommen.
Vor allem die AfD profitiert
In der jüngsten Sonntagsfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA vom Dienstag hat die FDP in der Wählergunst zugelegt. Doch Umfragen, sagt Niedermeyer, dürfe man vorerst nicht trauen: "Das Wahlverhalten bei Neuwahlen lässt sich derzeit überhaupt nicht abschätzen."
Auch Wiedenfeld will erst einmal abwarten, wie die Parteien sich verhalten. Danach werde sich zeigen, "wie die öffentliche Meinung reagiert."
Eines allerdings hält er für ausgemacht: Wenn die Politiker den "normalsten Vorgang in einer Demokratie nicht schaffen", nämlich die Bildung einer neuen Regierung, "dann entsteht daraus Enttäuschung und ein tiefer Zweifel am System."
Die Konsequenz ist Weidenfeld zufolge eindeutig: Auf Dauer werde aus diesem Zustand nur die AfD Vorteile ziehen. "Alle anderen verlieren – auch die FDP."
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.