Als Sebastian Deisler kein Profifußballer mehr sein wollte und Robert Enke gar Suizid begang, war Lina Bürger noch sehr jung. Doch beide Ereignisse hinterließen bei ihr Spuren. Heute, selbst betroffen von einem vorzeitigen Karriereende, dient ihre Masterarbeit in Psychologie als spannender Einblick in die psychische Gesundheit der Spielerinnen und Spieler eines ganzen Vereins.
Lina Bürgers Körper spielte irgendwann nicht mehr mit. Im Alter von 27 Jahren beendete die damalige Freiburger Bundesligaspielerin ihre Karriere im Jahr 2022. Eine Knie-Verletzung erwies sich als zu schwer. Die psychologische Hilfe, die sie damals vereinsintern vermisst hat, vermittelt Bürger inzwischen selbst bei ihrem anderen Ex-Klub in Hoffenheim. In einer Langzeitstudie erforschte die einstige Junioren-Nationalspielerin, inwiefern psychische Probleme und Depressionen Spielerinnen und Spieler unterschiedlicher Altersklassen und Leistungslevel betreffen und belasten. Unsere Redaktion hat mit ihr über die Ergebnisse gesprochen.
Hilft es Ihnen in Ihrer Arbeit als Sportpsychologin, dass Sie selbst Ihre Karriere wegen Knieproblemen frühzeitig haben beenden müssen, um mentale Probleme besser beurteilen zu können?
Lina Bürger: Es hilft, selbst mal Fußballspielerin gewesen zu sein und zu wissen, welche Herausforderungen, welche positiven Aspekte, aber auch welche negativen Aspekte der Sport, der Leistungssport so mit sich bringt. Das kann ein Vorteil sein. Für mich ist es eine wertvolle Erfahrung gewesen, auch jetzt für meine Arbeit.
Wie blicken Sie auf Ihre eigene Karriere zurück? Ich denke, Sie hätten noch ein bisschen länger spielen wollen.
Ja, sehr gerne. Es ist nicht so verlaufen, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich würde tatsächlich gerne noch spielen. Das war schon nicht einfach für mich zu der Zeit.
Haben Sie sich persönlich damals denn gut betreut gefühlt?
Ich habe mir meine Hilfe damals extern gesucht. Im Verein waren wir da nicht so breit aufgestellt.
Die Sorge, vergessen zu werden
Wie spricht man darüber unter Mannschaftskolleginnen, wenn man merkt, ich komme nicht richtig auf die Beine? Im Herrenfußball hört man ja immer wieder, dass Spieler, die länger verletzt sind, dann auch in Vergessenheit geraten?
Ich glaube, dass es beim Männer- genauso wie beim Frauenfußball so ist. Eine Verletzung führt zwangsläufig zu Veränderungen. Eine Spielerin oder ein Spieler ist dann nicht mehr regelmäßig bei der Mannschaft, sondern muss individuell seine Reha machen. Möglicherweise gibt es dann auch Sorgen, dass man vergessen wird.
Das heißt, dieser Spruch von den elf Freunden, der ja auch immer wieder im Profifußball bezweifelt wird, der ist auch bei den Frauen nicht zulässig?
Das würde ich so unterschreiben, ja. Ich glaube nicht, dass es immer elf Freundinnen sind. Ich glaube, es müssen auch gar nicht immer elf Freundinnen sein. Aber es ist schon wichtig, dass man ein paar Ansprechpartner im Team hat, zu denen man jederzeit gehen kann und bei denen man nicht in Vergessenheit gerät.
Haben Sie heute noch Kontakt zu ehemaligen Mitspielerinnen? Sie sind ja auch noch im Verein tätig.
Ja, genau. Wenn man so viele Jahre im Fußball verbracht hat, dann bilden sich automatisch ganz tiefe Freundschaften und Verbindungen. Ich bin froh darüber.
Hat es dann einen Unterschied gemacht, mit wem Sie für Ihre Langzeitstudie gesprochen haben?
Wir haben für die Studie anonymisiert befragt. Das heißt, wir wissen manche Faktoren gar nicht. Generell haben wir viele Spielerinnen der TSG untersucht und haben schon den Unterschied zwischen Männern und Frauen gefunden.
Welche Unterschiede haben Sie zwischen Männern und Frauen festgestellt und rausgearbeitet?
Es hat sich gezeigt, dass Frauen häufiger von depressiven Symptomen, aber auch von Angstsymptomen betroffen sind.
Hatten Sie das erwartet?
Es war zu erwarten, dass das bei Frauen so ist. Das zeigen auch andere Studien, egal, welche Bevölkerungsschicht man sich anschaut, also Sportler, Nichtsportler, Leistungssportler. Es ist eigentlich immer so, dass Frauen, vor allem in Fragebögen und Erhebungen, mehr Symptome angeben als Männer.
Männer trauen sich nicht so wirklich, Schwächen oder depressive Symptome zuzugeben? Sind Frauen ehrlicher?
Das würde ich so nicht sagen. Das hat bestimmt verschiedene Ursachen. Aber das können wir so aus meiner Studie nicht herauslesen.
Sie erinnern sich, wie ich gelesen habe, sehr gut an die Fälle von Sebastian Deisler und Robert Enke. Sehen Sie seitdem generell irgendeine Besserung beim Umgang mit dem Thema Depression im Profisport, gerade aus Ihrer Sicht als Sportpsychologin?
Es hat sich etwas getan. In letzter Zeit haben sich mehr Sportlerinnen und Sportler dazu auch öffentlich bekannt. Und es gab in den letzten Jahren viel mehr Forschung dazu, also zu dem ganzen Thema im Leistungssport. Wir sind auf dem Weg dazu, dass man noch mehr darüber sprechen kann. Aber wir sind noch lange nicht an dem Punkt, an dem man komplett offen darüber sprechen könnte.
Dieses System beginnt ja im Falle des Fußballs innerhalb der Mannschaft. Ich stelle mir vor, jemand in der Mannschaft merkt, er kommt irgendwie mit dem Druck nicht so richtig klar. Will man sich dann nicht öffnen, kann man sich dann nicht öffnen, weil man denkt, Trainerinnen oder Trainer, Mitspielerinnen oder Mitspieler könnten die eigene Schwäche ausnutzen?
Ich kann mir vorstellen, dass man Angst hat, stigmatisiert zu werden und dass die Gefahr besteht, dass das passiert, weil im Leistungssport ganz häufig psychische Gesundheit mit mentaler Stärke gleichgesetzt wird. Das ist ein wichtiger Punkt, an dem wir auch ansetzen wollen, indem wir darüber öffentlich sprechen, dass es eben nicht das Gleiche ist, sondern es zu unterscheiden ist.
Die Trainer in Hoffenheim werden mit den Ergebnissen der Erhebung konfrontiert
Sie haben die Ergebnisse Ihrer Studie anonymisiert vor sich. Heißt: Sie können aus den Angaben nicht herauslesen, in welcher Mannschaft jemand spielt, die oder der jetzt dringend psychologische Hilfe bräuchte?
Die Daten unserer Studie wurden außerhalb des Vereins ausgewertet. Es wurden auch alle Studienteilnehmer darauf hingewiesen, dass wir mit den Ergebnissen nicht die Möglichkeit haben, auf jemanden zuzugehen, weil wir einfach ehrliche Antworten wollten. Und das hat ausgeschlossen, dass wir wissen, wer das sein könnte. Was wir aber machen, ist, dass wir mit den Ergebnissen unsere Trainer aufklären, Workshops machen werden, um über das Thema zu sprechen und aufzuklären.
Aber diese Angebote sind komplett freiwillig? Es wird niemand dazu gezwungen, jetzt so einen Kurs zu belegen.
Genau, die sind freiwillig.
Und meinen Sie oder haben Sie schon gespürt, dass die Trainerinnen und Trainer jetzt speziell in Hoffenheim schon anders auf ihre Spielerinnen und Spieler zugehen?
Das ist ein Prozess. Wir haben angefangen, darüber aufzuklären. Das ist die wichtigste Grundlage.
Wie kann man denn handeln, wenn man eine Person im Verein oder der Mannschaft hat, die sich nichts anmerken lässt?
Von außen in dem Moment erstmal gar nicht. Die Spieler sind selbst in der Verantwortung und wir versuchen, ein Vereinsklima zu schaffen, in dem es möglich ist, sich Unterstützung zu holen. Es ist jedoch gar nicht zwingend notwendig, dass sich die Personen im Verein Hilfe holen müssen. Uns ist wichtig, dass darüber professionell gesprochen wird, das geht auch mit externen Experten.
Arbeit an psychischen Problemen ist ein Prozess
Sie haben verschiedene Phasen der Depression ausgemacht. Es ist ein Kernpunkt Ihrer Studie, dass Sie gesagt haben, je nachdem, welcher Saisonzeitpunkt gerade herrscht, ist auch die Ausprägung oder die Neigung zu Depressionen eher vorhanden. Das kennen wir ja aus dem normalen Leben. Die Jahreszeiten spielen eine Rolle, wie viel Sonne scheint, wie viel Licht der Mensch kriegt. Im sportlichen Zusammenhang entscheidet der Verlauf der Saison. Angenommen, Spielerin A oder Spieler B kämpft jetzt gerade noch um den Klassenerhalt. Wie soll man dann aus seinem Loch bis zum Saisonende herauskommen?
Das funktioniert meistens nicht so schnell, dass man einmal sprechen muss und dann ist man raus aus dem Loch. Es ist immer ein Prozess. Das Allerwichtigste ist, dass man sich an einen professionellen Ansprechpartner wendet und schaut, welche Hilfe wird benötigt. Reicht der Sportpsychologe oder muss man zum Therapeuten, braucht man vielleicht sogar medikamentöse Unterstützung? Diesen Schritt überhaupt zu gehen, das ist es, woran wir arbeiten können. Dahingehend haben wir eine Kooperation mit der Uniklinik in Heidelberg ausgebaut. Dort gibt es Ansprechpartner, zu denen wir unsere Spielerinnen und Spieler bei Bedarf hinschicken können, oder bei denen sie sich auch selbst Hilfe suchen dürfen.
Sprechen wir über die Robert-Enke-Stiftung. Wie kann ich mir die Zusammenarbeit vorstellen?
Die Robert-Enke-Stiftung bietet Workshops an für Spieler und Spielerinnen, um über Depression aufzuklären. Wir planen im Anschluss an unsere Workshops, die wir eigenständig machen, gemeinsam mit der Robert-Enke-Stiftung unsere Spielerinnen und Spieler weiter aufzuklären.
Auf diese Anzeichen sollten Spielerinnen und Spieler achten
Bei welchen Anzeichen sollten Spielerinnen oder Spieler aufhorchen?
Die Hauptsymptome sind, dass man die Lust und den Spaß und das Interesse an Dingen verliert, die einem sonst Spaß gemacht haben. Dazu kommt eine niedergeschlagene und depressive Stimmung. Die kann sich tatsächlich häufig auch als Gereiztheit zeigen. Daran denkt man gar nicht im ersten Moment. Ansonsten gibt es dann noch Nebensymptome, wie Schlafstörungen. Bei Jugendlichen gibt es häufig auch Kopf- und Bauchschmerzen.
Können Sie nachvollziehen, dass es Spielerinnen und Spieler gibt, die es irgendwie schaffen, nur im privaten Bereich in eine Depression zu verfallen und sobald das Flutlicht angeht, dann funktionieren sie?
Ja, genau, das ist tatsächlich ein ganz typisches Beispiel. Dass man es schafft auf dem Fußballplatz, den Schalter umzulegen und all seine Kräfte irgendwie zu mobilisieren. Dann ist man zur Leistung trotz eines riesigen Leidensdrucks in der Lage. Die Frage ist nur: zu welchem Preis? Robert Enke ist das tragischste Beispiel. Bei ihm hat man gemerkt, es ist möglich, aber zu dem Preis letztlich, dass so ein Leidensdruck da war, dass er das nicht mehr ausgehalten und Suizid begangen hat.
Die Ergebnisse Ihrer Studien gehen jetzt durch die Medien. Haben Sie auch schon Reaktionen von anderen Vereinen oder auch aus anderen Sportarten bekommen?
Tatsächlich gibt es ein Medienecho, womit wir gar nicht gerechnet haben. Wir sind gerade dabei, die Studie als wissenschaftliches Paper umzuschreiben, also zu kürzen. Die Studie soll auch öffentlich zugänglich sein. Das ist gerade noch im Prozess. Wir planen, dass wir Folgestudien machen, dass wir uns das weiter anschauen. Und wir planen eine Folgestudie mit anderen Vereinen, mit anderen Leistungsklassen, um sich da nochmal den Verlauf anzugucken, ob diese Ergebnisse so nur im Fußball vorkommen oder ob das auch bei anderen Sportlern vorkommt.
Also es könnte durchaus sein, dass Sie da was losgetreten haben, dass auch andere Vereine aufspringen und sich das intern anschauen.
Wir würden uns aus Forschungssicht wünschen, dass das so ist. Das erfordert natürlich auch immer ein bisschen Mut. Deswegen bin ich der TSG Hoffenheim sehr dankbar, dass sie die Studie möglich gemacht haben.
Der Frauenfußball erlebt einen immensen Aufschwung, den sich auch alle Beteiligten sicher immer gewünscht haben. Aber befürchten Sie denn auch negativen Folgen, also zunehmenden Druck durch mediale Präsenz und mehr Geld und – als mögliche Folge - auch mehr Fälle von Depressionen im Frauenfußball?
Ich befürchte das nicht aktiv. Ich glaube, eine Professionalisierung geht immer mit Vor- und Nachteilen einher. Es kann ja auch andersrum und entlastend sein, wenn man sich eben nur auf den Sport konzentrieren kann, dass man eben nicht mehr diese Doppelbelastung hat mit Studium und Arbeit.
Ihre Karriere endete im Jahr 2022. Sie haben gesagt, Sie würden gerne noch spielen. Würden Sie sich also wünschen, auch noch Teil dieses Aufschwungs zu sein?
Ja, klar. Aber ich war auch schon Teil des Aufschwungs. Das ist ja ein längerer Prozess. Aber natürlich würde man immer noch länger gerne Teil des Aufschwungs sein und das noch miterleben dürfen. Das ist, glaube ich, generell ein Riesenprivileg, wenn man sein Hobby oder seine Leidenschaft zum Beruf machen darf und durfte. Aber ich bin jetzt auch happy mit dem, wie es gelaufen ist und wo ich jetzt stehe.
Wird das Tabuthema Depression oder mentale Gesundheit irgendwann normal im Profisport, oder wird es immer irgendwie unter der Decke bleiben?
In Zukunftsprognosen sind wir Menschen immer ziemlich schlecht. Aber ich würde mir natürlich wünschen, dass es in dem Tempo vorangeht. Ich denke, dass es auch eine Auswirkung hat, wenn man öffentlich mehr darüber spricht. Aber wir sind noch lange nicht an dem Punkt, an dem wir gerne wären.
Es bleibt der Eindruck, dass Profisport und dessen Business eigentlich dem immer entgegensteht, offen über mentale Probleme zu reden.
Es ist, wie gesagt, ein Prozess. Und wir arbeiten daran, dass es sich weiter verbessert.
Über die Gesprächspartnerin
- Bundesligaspielerin Lina Bürger musste ihre aktive Karriere im Sommer 2022 aufgrund anhaltender Knieprobleme bereits im Alter von 27 Jahren beenden. Damals sagte sie in der entsprechenden Mitteilung des Vereins vom 28. April 2022: "Leider bin ich körperlich nicht mehr in der Lage, Profisport zu betreiben und werde meine Fußballschuhe schweren Herzens an den Nagel hängen. Ich hatte das unfassbare Glück, mein Hobby zum Beruf machen zu dürfen. Für mich war es aber viel mehr als das: Es war meine Leidenschaft und mein Leben. Umso schmerzhafter ist es, sich einzugestehen, dass der Körper nicht mehr das machen kann, was das Herz sich so sehr wünscht." Die ehemalige Auswahlspielerin des DFB (U15 und U19) begann bereits während ihrer Karriere ein Psychologie-Studium und ist nunmehr als Sport-Psychologin bei ihrem Ex-Klub, der TSG 1899 Hoffenheim, tätig. Für ihre Studie zum Thema psychische Gesundheit, die auch ihre Masterarbeit darstellt, begleitete und befragte sie in der Saison 2022/23 205 Spielerinnen und Spieler der TSG 1899 Hoffenheim, von der U12 bis hoch zu den Profis.
Verwendete Quellen:
- scfreiburg.com: Lina Bürger beendet ihre Karriere
- tsg-hoffenheim.de: Studie liefert neue Erkenntnisse zur Psychischen Gesundheit im Fußball
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