Ein sehr ländlicher Seemannskrimi als "Tatort" aus Bremen: "Stille Nacht" ist hübsch dekoriert, wird aber niemandem vor Aufregung die Kerze vom Adventskranz hauen.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Iris Alanyali dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Weihnachten plus Familie bedeutet schnell einmal Drama. Das heißt nicht, dass man sich gegenseitig umbringt. Meistens jedenfalls.

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In der modernen Bremer Patchworkfamilie der Wilkens sieht erst einmal alles sehr friedlich aus. Die Seemänner und -frauen haben sich in ihrem festlich geschmückten friesischen Landhaus fröhlich um den Weihnachtsbaum versammelt: Kapitän Hendrik Wilkens (Matthias Freihof) mit Ehemann Bjarne (Rainer Sellien), die erwachsenen Kinder aus Hendriks erster Ehe, Fabienne (Pia Barucki) und Marco (Robert Höller), Marcos Ehefrau Nahid (Rana Farahani) mit Baby und kleiner Tochter.

Und dann haben sie noch einen Gast aus der Seemannsmission über die Feiertage, den philippinischen Matrosen Andy Malinao (Jernih Agapito), damit der nicht so allein ist fern der eigenen Familie. Man packt Geschenke aus, trinkt und isst gut und singt lauthals Karaoke: "Last Christmas..."

Die Ermittlerinnen Liv Moormann (Jasna Fritzi Bauer) und Linda Selb (Luise Wolfram) sitzen derweil beim Feiertagsdienst im dunklen Kommissariat. Aber sie sind heilfroh, allen Familienzwängen entkommen zu sein und spielen gut gelaunt eine Art Weihnachtsbingo mit allen Schrecklichkeiten, die sie so mit dem Fest verbinden: "15.000 abgefackelte Wohnungen!", "Häusliche Gewalt!", "Last Christmas!".

Der Hit verbindet die Extreme: Am nächsten Morgen liegt Kapitän Hendrik Wilkens erschossen auf dem Boden seines Zimmers im Tiefparterre. Das Fenster zerbrochen, der Safe geöffnet, auf den ersten Blick sieht es nach Raubmord aus. Doch als Moormann und Selb ihre Ermittlungen beginnen, stellen sie schnell fest, dass der Einbruch fingiert war: Der Mörder muss sich schon im Haus befunden haben.

"Tatort: Stille Nacht" aus Bremen ist ein klassischer Whodunit

Dieser so traditionell weihnachtlich geschmückte Bremer "Tatort" hat schon seinen Charme. Es ist ein klassischer Whodunit wie bei Agatha Christie, den "Stille Nacht" erzählen will: Alle Hauptverdächtigen an einem Ort versammelt, und der Reihe nach kommen die Motive der Anwesenden ans Licht. Und es geht keineswegs nur um den Matrosen Andy, der ja als Einziger nicht zur Familie gehört. Es stellt sich bald heraus, dass es bei den Wilkens nicht ganz so heimelig zuging, wie es den Anschein hatte. Vielleicht vermutete Bjarne eine Affäre? Vielleicht haben Landei Marco seine Minderwertigkeitskomplexe übermannt?

Moormann und Selb spielen gedanklich mehrere mögliche Szenarien eines Familiendramas durch, und wie in einem altmodischen Landhauskrimi werden die Varianten als Teil der Geschichte inszeniert, so dass das Publikum den Überlegungen der Ermittlerinnen gewissermaßen zusehen kann. Nachvollziehbar werden sie dadurch aber nicht – dafür gibt uns der Film (nach dem Drehbuch von Daniela Baumgärtl und Kim Zimmermann) zu wenig Gelegenheit, mit den Familienmitgliedern warm zu werden.

"Stille Nacht" will von der Last erzählen, die auf Seemannsfamilien liegt. Vom besonders extremen Druck auf ein heimeliges Zuhause, wenn denn man alle da sind, von Spannungen und Erwartungshaltungen, von Toleranz und Barmherzigkeit – aber wenn das nicht über Menschen erzählt wird, die uns nahe gehen, bleiben es kalte Behauptungen.

Auch die Regie (von Sebastian Ko) ist nicht straff und konzentriert genug, um die nötige Spannung zu erzeugen. Anstatt sich ganz auf das Haus und die darin festsitzende Familie zu konzentrieren, herrscht in "Stille Nacht" ein ständiges Hin und Her. Zwar verbringt Liv Moormann tatsächlich viel Zeit mit den Wilkens, aber eine Atmosphäre von psychologischer Anspannung, von einer Schlinge, die sich langsam zuzieht, stellt sich nie ein.

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Zumal Linda Selb die meiste Zeit im Kommissariat vor dem Computerbildschirm sitzt oder in Bremen das Umfeld der Familie erkundet. Dabei landet sie auf der Weihnachtsparty der Seemannsmission und feiert ganz Selb-untypisch begeistert mit - manchmal können Fremde eben zu einer vorübergehenden Familie werden, in der man sich aufgehobener fühlt als in der eigenen. Am Ende ist "Stille Nacht" ein versöhnlicher Vorweihnachtskrimi, der allerdings niemandem vor Aufregung die Kerze vom Adventskranz pusten wird.

Neuzugang im Bremer Tatort

Apropos Familie: Es gibt einen Neuzugang in Bremen. Die Rechtsmedizinerin Edda Bigley hilft den Kommissarinnen bei den Ermittlungen. Gespielt wird sie von der Amerikanerin Helen Schneider, die Anfang der Achtzigerjahre in Deutschland vor allem durch ihren Hit "Rock ’n’ Roll Gypsy" und eine Tour mit Udo Lindenberg bekannt wurde. Laut dem Sender Radio Bremen soll Edda Bigley eine wiederkehrende Figur im Bremer "Tatort" werden.

Das andere internationale Familienmitglied, Mads Andersen, hat sich ja stillschweigend verabschiedet: Der dänische Darsteller Dar Salim ist international einfach zu gefragt. Er und Radio Bremen schließen allerdings "nicht aus, dass es später vielleicht ein Wiedersehen" beim Bremer "Tatort" geben könnte.

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