• In "Neugeboren" ermitteln ein cooler Däne, eine enthusiastische Anfängerin und die arrogante Expertin für alles.
  • Ein Neugeborenes ist verschwunden und ein Drogendealer tot.
  • Der Bremer "Tatort" erzählt verständnisvoll vom Leben am Rand der Hoffnungslosigkeit.
Eine Kritik

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Bremen hat ein neues Team, und was für eines! Die Zuschauer werden sofort mitten ins Geschehen gezogen. Abstand nehmen ist nicht, distanziertes Beobachten keine Option: Du kommst mit uns, fordert dieser "Tatort" selbstbewusst, oder du bist gegen uns.

Wir aber sind von den ersten Minuten an gern mit dabei. Wir springen mit der Musik und schnellen Schnitten zwischen einer Schlägerei im Hinterhof und einer Hausgeburt. Ein Mann liegt blutend am Boden. Einer jungen Frau ploppt im Wohnzimmer das Baby einfach so aus dem Unterleib – ob das jetzt realistisch ist und nicht vielleicht ein bisschen lächerlich und auch ein bisschen eklig, darüber nachzudenken haben wir keine Zeit, wir wurden bereits raus aus der Bremer Nacht ins Licht des nächsten Morgens geworfen.

Das Dreiergespann: Eifrige Jungkommissarin, Sonderermittler aus Dänemark und skurrile BKA-Beamtin

Jetzt begleiten wir Kommissarin Liv Moormann (Jasna Fritzi Bauer). Sie hat es eilig und hastet durch den Bremer Bahnhof, und das helle Weißgrau ihrer eleganten Kleidung passt irgendwie nicht zu den tiefsinnigen Worten dieser Frau, die wir in der Nacht schon gehört haben. Sie kommen aus dem Off, wie ein Kommentar zur Prügelei und Hausgeburt: Dass ein Moment ein ganzes Leben verändern könne, und alles gut werden könne, oder "alles scheiße, viel zu oft scheiße". Und dass man diesen Moment erkennen und alles daran setzen müsse, fortan zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Und wir begreifen, dass die junge Kommissarin nicht nur das Geschehen kommentiert hat, sondern auch von sich erzählt. Wir sind sofort gespannt.

Erst aber muss Liv Moormann zum Vorstellungsgespräch bei der Bremer Polizei. Dort hat nur keiner Zeit für sie: Aus einem Krankenhaus ist ein Baby entführt worden, und alle Einsatzkräfte sind unterwegs. Kommissar Mads Andersen (Dar Salim) nimmt sich Liv Moormanns an. Weil er ein netter Mensch ist und sowieso nicht mehr lange hier: Der Sonderermittler aus Dänemark will eigentlich gerade zurück nach Kopenhagen. Ob er das aber wirklich will, ist natürlich die Frage, wo sich hier doch so schnell eine so wunderbare Zusammenarbeit anbahnt.

Vor einer Industrieruine liegt ein junger toter Drogendealer, und weil alle mit dem vermissten Neugeborenen beschäftigt sind, bleibt der Fall an Andersen (widerwillig) und Moormann (begeistert) hängen. Zu ihnen stößt Linda Selb (Luise Wolfram). Die "Wunderwaffe vom BKA" kennt man schon aus früheren Bremer "Tatorten", jetzt aber ist die Beamtin statt gelegentlichem skurrilen Sidekick ein gleichwertiges skurriles Mitglied des Teams.

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Die Darsteller: Viel Selbstironie und ein wenig internationaler Flair

Über die Chemie der drei musste sich niemand Sorgen machen, der die ebenfalls höchst empfehlenswerte Mockumentary "How to Tatort" in der ARD-Mediathek gesehen hat. In der selbstironischen Websatire wurden die drei Darsteller auf ihren Einsatz als Fernsehermittler vorbereitet und hatten überhaupt kein Problem damit, ihre fiktiven "Tatort"-Charaktere mit ihrem Kamera-Selbst verschmelzen zu lassen.

Luise Wolfram spielte da bereits mit dem Image ihrer Linda Selb, der überheblichen Expertin für alles, deren kühles Ego ihrer Körpergröße entspricht und deren Respekt gegenüber den Kollegen nur von deren Professionalität abhängt. Die aber manchmal auch eine rührend ungelenke Neugier auf emotionale Bindung durchscheinen lässt.

Dar Salim, nicht nur dank seiner Rolle als Qotho in "Game of Thrones" ein Star in Dänemark, bringt internationales Flair nach Bremen. Sein Mads Andersen ist ein zurückhaltender ehemaliger Undercover-Ermittler mit einer ganz offensichtlich aufregenden, aber unbekannten Vergangenheit. Andersen kann kämpfen, wenn er muss, aber in der Ruhe liegt seine wahre Kraft.

Und dann ist da natürlich Jasna Fritzi Bauer, der Theaterstar mit dem dauerironisch hochgezogenen Mundwinkel. Locker schafft sie es, in dem Kommissariats-Küken Liv Moormann Enthusiasmus und Professionalität, Witz und Lebensklugheit zu einer unwiderstehlichen Mischung zu vereinen. Jasna Fritzi Bauer könnte den Bremer Veranstaltungskalender vorlesen, und wir würden gebannt nach tieferer Erkenntnis schürfen.

Hartz-4-Wohnanlage mit Babys als Statussymbol

Auf der Suche nach dem Mörder des jugendlichen Dealers beginnt das Team in der Wohnanlage zu ermitteln, wo Prügelei und Hausgeburt stattfanden.

Dabei wird schnell klar, dass hinter Moormanns Einsatzfreude eine Getriebenheit steckt, die auf ihre nicht so frohe Vergangenheit verweist. Liv Moormann scheint mit dem Alltag in diesem sozialen Brennpunkt gut vertraut, wo die Demütigungen eines verpfuschten Lebens und Hartz-4 im Alkohol ertränkt werden. Wo junge Frauen als Teenager durchgehen würden, hätten sie nicht bereits drei Kinder und keinen Mann, aber einander.

"Babys sind hier Statussymbol", erklärt Moormann den Kollegen trocken, "sie sollen zeigen, dass alles gut ist, und nicht scheiße. Außerdem kriegt man Kindergeld."

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Gnadenlose Hoffnungslosigkeit mit respektvollem Augenmerk auf die Details

Das kluge Drehbuch von Christian Jeltsch ist voll solcher Sätze, voll trockener, knapper Dialoge, die mit der "typisch norddeutschen" Abgeklärtheit unterhalten, ohne auf Flensburger-Bier-Klischees zurückgreifen zu müssen.

Unter Barbara Kulcsars Regie, mit Filip Zumbrunns Kamera werden wir gewissermaßen aus Liv Moormanns Perspektive durch die Handlung geführt. "Neugeboren" erzählt vom Leben am Rande der Hoffnungslosigkeit ohne Beschönigung. Aber mit Respekt und Augenmerk auf die Details, die es erträglich machen sollen: das Glas Discounter-Sekt im Nagelstudio, die Wand voll Werder-Bremen-Fanartikel.

Was für ein Auftakt, was für ein Team: Alles zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort, und alles wird gut.

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