Frustrierte Felsen im Meer toxischer Männlichkeit: Batic und Leitmayr ermitteln im Gefängnis.
Die Kommissare sitzen im Gefängnis. Ein Mann ist in der Dusche erstochen worden, und es erleichtert die Ermittlungen, wenn die Insassen vor Ort befragt werden können. Also bauen Franz Leitmayr (
Einer, der einfach nur in Ruhe lesen will, ist Musterhäftling Dieter Scholz (
Im Gefängnis gelten die Regeln des Stärkeren
Als Verhörraum taugt die Bibliothek allerdings auch nicht viel: Im Gefängnis haben die Bosse zweier konkurrierender Banden das Sagen, und also sagt erst einmal niemand etwas. Jedenfalls nicht den Kommissaren. Das hätten wir ihnen auch sagen können – der Münchner "Tatort: Das Wunderkind" von Regisseur und Drehbuchautor Thomas Stiller konzentriert sich ganz auf den Mikrokosmos Gefängnis als hoch konzentrierte Version einer testosterongesteuerten Männerwelt. Der hervorragend besetzte Film nimmt sich viel Zeit, das Publikum in diese Welt einzuführen. Eine Welt, in der die Regeln des Stärkeren herrschen, und das ist nicht die Staatsgewalt.
Roland Gumbert wollte mit seiner Truppe den lukrativen internen Gefängnishandel von der Bande um Metin Demir (Kailas Mahadevan) übernehmen. Doch nicht nur deswegen kommen außer Scholz viele andere als Täter infrage: Der Fiesling Gumbert war verhasst, regierte mit falschem Lächeln und nächtlichen Zellenbesuchen.
Was geregelt werden muss, regelt man hier eben unter sich, mit knappen Worten, harten Schlägen und ortsüblichen Gewalttaten: Eine Verbrühung in der Gefängnisküche, ein Übergriff in der Zelle. Batic und Leitmayr erscheinen in diesem Meer toxischer Männlichkeit wie Felsen in der Brandung. Ziemlich frustrierte Felsen allerdings.
Batic wird sogar zusammengeschlagen, als die korrupte Beamtin Anja Bremmer (Jule Ronstedt) im Gefängnisflur praktischerweise kurz wegsieht. Das ist ihre Art, sich hinter den verschlossenen Türen zu behaupten. Denn selbst wenn die Mitarbeiter am Ende ihrer Schicht nach Hause gehen können: "Das Wunderkind" zeigt auch sie als Gefangene der Gefängnisregeln. Das gilt auch für den Direktor, der zwar Dienst nach Vorschrift macht, aber die Kommissare spüren lässt, wie wenig sich mit diesen Vorschriften ausrichten lässt.
Um eine Verschnaufpause vom Gefängnis zu bieten, aber auch, um Parallelen zum Leben jenseits der Mauern zu zeigen, bringt "Das Wunderkind" die Titelfigur ins Spiel: Beim Streit ums Sorgerecht gerät der musisch hochbegabte Ferdinand ins Zentrum eines weiteren Machtkampfes: Ferdinands Pflegemutter muss den sich sträubenden Jungen mit Dieter Scholz gehen lassen, aber sie traut dem Ex-Häftling ebenso wenig über den Weg wie Kommissar Leitmayr, der aus ganz persönlichen Gründen nicht daran glaubt, dass sich "einer wie Scholz" ändern kann. Außerhalb der Gefängnismauern ist der Kommissar wieder wer und lässt es Scholz spüren. Ferdinand bäumt sich bei seinem biologischen Vater derweil auf wie ein Gefangener. Rehabilitation als Schwerstarbeit.
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Dreharbeiten während laufenden Betriebs in der JVA Landshut
Gedreht wurde "Das Wunderkind" während des laufenden Betriebs in der Justizvollzugsanstalt Landshut. Die Gefängniswelt "realistisch, glaubwürdig und in ihrer Härte zu zeigen, war mir wichtig", so Thomas Stiller, und dieses Bemühen um Authentizität merkt man seinem "Tatort" an. So oder so ähnlich hat man Gefängnisse zwar schon oft gesehen, aber "Wunderkind" geht es nicht um Schockeffekte, auch fehlt dem Film die sonst recht häufige unterschwellige Bewunderung für eine animalische Coolness der Insassen.
Mit neutralem Interesse, aber Respekt für seine Figuren beobachtet "Das Wunderkind" vielmehr, was passiert, wenn Männer mit problembehafteten Biografien auf engem Raum und unter ständigem Druck zusammenleben müssen. Ruhig und zugleich packend erzählt der Film von der Spirale aus Aggressionen und Gewalt, von Strategien, sich ihr zu entziehen – und von vergeblichen Versuchen, dem tödlichen Hahnenkampf zu entfliehen.
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