In den USA haben sich die weltweit größte Kinokette AMC und das Filmstudio Universal darauf geeinigt, Kinofilme bereits nach 17 Tagen als Stream herauszubringen. Sollte sich ein solches Modell durchsetzen, wäre dies für die in der Corona-Pandemie ohnehin angeschlagenen Kinos eine gefährliche Situation. Wir haben mit dem Medienökonom Thorsten Hennig-Thurau und dem Münchner Kinobetreiber Thomas Wilhelm über die Situation gesprochen.

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Jetzt auch noch "Mulan": Am Mittwoch wurde bekannt, dass Disney den wegen der Corona-Pandemie bereits mehrfach verschobenen 200-Millionen-Blockbuster direkt auf der eigenen Streaming-Plattform Disney+ herausbringen wird; in den Kinos wird "Mulan" gar nicht zu sehen sein.

Es ist die nächste Hiobsbotschaft für die Kinos, die ohnehin von der Coronakrise besonders hart getroffen wurden. Zunächst mussten die Säle während des Lockdowns komplett geschlossen bleiben, seit der Wiedereröffnung gelten Abstandsregeln und es fehlen die Blockbuster. Die Filme, die die Menschen reihenweise ins Kino locken sollten, wurden größtenteils verschoben, teilweise sogar ins nächste Jahr.

Oder sie erscheinen direkt als Video-on-Demand, wie jetzt "Mulan". Mittelfristig ist die Konkurrenz durch die Streaming-Dienste die größte Gefahr für die Kinos; in der vergangenen Woche sorgte ein Deal zwischen der weltweit größten Kinokette AMC und dem Filmstudio Universal in den USA für Aufregung. Dieser gibt Universal das Recht, den Film bereits nach 17 Tagen als Stream anzubieten. Wichtig ist, dass Universal an dieser Stelle auch auf das Recht verzichten und den Film länger im Kino laufen lassen kann. Im Gegenzug soll AMC an den Streaming-Einnahmen beteiligt werden.

AMC-Universal-Deal: Auch ein Modell für Deutschland?

"Mag sein, dass die AMC-Kinokette sich davon einen Vorteil verspricht, ich kann diesen nicht erkennen, und wenn ist dieser nur von kurzer Dauer", sagt Thomas Wilhelm, der in München die Kinos "Neues Rex“, "Cincinnati" und "Neues Rottmann" betreibt, im Gespräch mit unserer Redaktion. "Damit dieser überhaupt funktioniert, müssen alle Kino-Marktteilnehmer diesem Deal auch zustimmen, was nicht der Fall sein dürfte."

In Deutschland sei die Situation eine gänzlich andere, führt Wilhelm weiter aus: "Ich kann mir kaum vorstellen, dass dies hier in gleicher Form umsetzbar wäre. Grundsätzlich ist unser exklusives Auswertungsfenster immer im Fokus solcher Begehrlichkeiten, aber ich denke, alle Marktteilnehmer sind sich der Brisanz des Themas bewusst."

Die Preise für einen Kinobesuch sind hoch. Und das müssen sie auch sein, um die Kosten der Kinobetreiber zu decken. Oft sind es nicht die Kinokarten, sondern erst der Verkauf von Getränken, Popcorn und Süßigkeiten, die für schwarze Zahlen sorgen.

Die Motivation der Kinobesucher, diesen Preis zu zahlen, ist neben dem gemeinschaftlichen Filmerlebnis vor allem die Exklusivität der Filme. Denn derzeit vergehen in der Regel noch Monate, bevor ein mit Spannung erwarteter Film in den eigenen vier Wänden gestreamt werden kann.

Doch genau diese Exklusivität gerät durch den AMC-Universal-Deal in den USA in Gefahr. Im Frühjahr boykottierten die AMC-Kinos Universal-Filme noch aufgrund der neuen Veröffentlichungsstrategie, nun haben sie sich auf den 17-Tage-Deal eingelassen - was durchaus als Zeichen der Schwäche in dieser schwierigen Zeit gewertet werden kann.

Durch Streaming drohen große Verluste

"Das sogenannte 'Kinofenster' ist seit nunmehr fast 20 Jahren, als die Umsätze durch DVDs zur relevanten Größe in den Kalkulationen der Filmstudios wurden, einer der größten Streitpunkte der Filmindustrie, und zwar in Deutschland genauso wie in Nordamerika", erklärt der Medienökonom Thorsten Hennig-Thurau, Professor am Marketing Center der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Hennig-Thurau war bereits 2007 Hauptautor einer Studie, die einen Rückgang der verkauften Kinotickets um bis zu 40 Prozent prophezeite, sollte es die Möglichkeit geben, einen neuen Film parallel zum Kinostart auch im Heimkino schauen zu können. Und das war wohlgemerkt lange, bevor Streaming-Anbieter und Online-Videotheken ihren Siegeszug antraten.

Bereits im Frühjahr hatte Universal den Animationsfilm "Trolls World Tour" direkt als Stream veröffentlicht und damit mehr Geld eingenommen, als der erste Teil "Trolls" an den Kinokassen eingespielt hatte. Der Beweis, dass das Publikum Premieren als Video-on-Demand-Formate annimmt, war dadurch erbracht. In den Verhandlungen mit AMC spielte dies Universal in die Karten.

Sowohl AMC als auch Universal haben Gespräche über ähnliche Abmachungen weltweit angekündigt, in Deutschland wären davon die UCI-Kinos betroffen, die zur AMC-Kette gehören. Ohne Weiteres wäre ein solcher Deal hierzulande aber nicht umsetzbar, denn die Sperrfrist ist gesetzlich geschützt – zumindest für Filme, die von der Filmförderungsanstalt FFA gefördert werden. Diese dürfen erst sechs Monate nach Kinostart auf anderen Kanälen gezeigt werden. Die großen Blockbuster betrifft dies aber kaum, da sie in der Regel keine FFA-Förderung erhalten.

Bei vielen deutschen Filmen hingegen sieht das anders aus. "Die Verlierer wären dann - wieder einmal - die deutschen Produzenten, denn deren Filme wären von einer solchen Regelung wegen des Filmförderungsgesetzes ausgeschlossen. Während also dann die amerikanischen Kollegen und deren deutsche Dependenzen ihre Ausgaben durch frühe digitale Verkäufe oder durchs Streaming bei Netflix oder Amazon kurz nach dem Kinostart zumindest teilweise wieder hereinholen könnten, bliebe den Deutschen nur das Warten", sagt Wirtschaftswissenschaftler Hennig-Thurau.

Kinos müssen neue Wege finden

Abgewartet werden muss auch, welche Auswirkungen der Deal zwischen AMC und Universal tatsächlich haben wird, für die Kinos in den USA und weltweit. Zu viele Fragen sind noch offen, etwa ob sich andere Kinos, Kinoketten und Filmstudios ebenfalls auf verkürzte Kinofenster einlassen werden.

Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die Veränderungen längst begonnen haben und sich nicht mehr aufhalten lassen. Der AMC-Universal-Deal belegt dies ebenso wie die Veröffentlichung von "Mulan" an den Kinos vorbei.

"Das Hauptproblem der Kinos: Sie haben eben nicht nur ihre Lieferanten in Gestalt der Filmstudios gegen sich, wenn sie auf Gedeih und Verderb an der Sperrfrist festhalten - sondern auch viele Zuschauer", erklärt Hennig-Thurau. "Geschäftsmodelle, die sich auf Basis von Macht und Lobbyismus gegen die Zuschauerinteressen stellen, haben noch nie besonders gut funktioniert in der Wirtschaftsgeschichte, da irgendwann immer Anbieter einen Weg finden, die Wünsche des Kunden zu bedienen. Das war erst das illegale Napster, dann zwanzig Jahre später das legale Netflix."

Für die Kinos gilt es also, neue Wege zu finden, um trotz der Bedrohung durch die Streams und kürzere Exklusivfenster attraktiv zu bleiben. Letztlich werden die Zuschauer mit ihrem Konsumverhalten darüber entscheiden, ob es weiter Filme auf der großen Leinwand gibt oder ob das Heimkino zum Standard für Premieren wird.

Oder gibt es eine Möglichkeit der friedlichen Koexistenz?

Verwendete Quellen:

  • Interview mit dem Kinobetreiber Thomas Wilhelm
  • Interview mit dem Medienökonom Professor Dr. Thorsten Hennig-Thurau
  • Blickpunkt Film: "Wir verstehen was sie getan haben"
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