Seit rund zehn Jahren erleben Formate wie True-Crime-Podcasts einen regelrechten Boom. Doch was, wenn die Hörerinnen und Hörer selbst in die Ermittlungen einsteigen und bislang ungeklärte Kriminalfälle lösen wollen? Diesem Phänomen der Internetdetektive widmet sich Christian Hardinghaus.
Im Interview mit unserer Redaktion erklärt der Autor und Medienwissenschaftler, was Internetdetektive antreibt und wo die Vorteile, aber auch Gefahren dieser Ermittlungen liegen.
Herr Hardinghaus, was fasziniert uns so sehr an wahren Verbrechen?
Christian Hardinghaus: Das ist eine spannende Frage, denn die Wissenschaft beobachtet einen regelrechten True-Crime-Boom, der seit rund zehn Jahren nicht aufzuhalten ist. Neben den schönen Geschichten über das Gute und die Liebe haben schon immer Geschichten über das Böse und Rätselhafte fasziniert. Menschen wollen sich über spannende Themen unterhalten – True Crime ist spannend und liefert zudem Inhalte, die tatsächlich geschehen sind. Auch der Rätselspaß, den wir bei dem Konsum von Krimis erleben, spielt eine Rolle. Neben dem Unterhaltungsreiz hat True Crime aber auch einen Nutzen.
Studien zeigen, dass vor allem Frauen True-Crime-Formate nutzen, um sich in Gefahrensituationen hineinzuversetzen, um vermeintliche Lösungen für eine ähnliche Gefahrenlage zu erhalten. Der präventive Gedanke spielt also eine Rolle. Außerdem verarbeiten Frauen mithilfe von True-Crime-Formaten häufig eigene gewaltvolle Erfahrungen, die sie durchleben mussten.
Was Internetdetektive antreibt
Wir sprechen also von einem Phänomen, das die Menschen schon immer bewegt hat?
Ja, ich habe recherchiert, dass der erste True-Crime-Bericht im Jahr 1800 vor Christus auf einem Papyrusdokument erstellt wurde. Das bedeutet: Schon damals wurden Geschichten über Mord und Totschlag festgehalten, was immer weiter fortgeführt wurde. Im Mittelalter wurden dann mittels Balladen und noch später mithilfe von Flugblättern entsprechende Geschichten weitergegeben. Letztlich konnten die Geschichten dann durch die Entstehung des Buchdrucks abgetippt und erzählt werden.
Die True-Crime-Geburtsstunde ist übrigens ungefähr im 18. Jahrhundert anzusetzen, als britische Gefängnisse Kalender herausgegeben haben, in denen die Taten der zum Tode verurteilen Insassen in sehr grausigen Details geschildert wurden. Der tatsächliche Boom rund um True Crime ist dann schließlich im digitalen Zeitalter ab 2014 anzusiedeln, in dem Streamingdienste wie Netflix oder Podcasts von Relevanz sind.
Eben dieser Faszination widmen Sie sich in Ihrem Buch "Die Sucht nach Verbrechen. Wie Internetdetektive in True Crime Fällen ermitteln". Wie kommt es, dass Menschen True-Crime-Formate nicht nur konsumieren, sondern selbst zum Internetdetektiv werden?
Das Verhalten dieser Menschen geht weit über die bloße Faszination hinaus. Während sie im Englischen passenderweise mit dem Begriff "Websleuths" betitelt werden, werden wir dem Ganzen im Deutschen mit der Benennung "Internetdetektive" am ehesten gerecht. Diese Menschen sind getrieben von ihrem Gerechtigkeitssinn. Sie wollen nicht hinnehmen, dass es zu viele Cold Cases oder unidentifizierte Tote gibt.
Darüber hinaus üben sie Kritik an den Strafermittlungsbehörden, dass Fälle nicht weitreichend genug untersucht wurden. Häufig finden sich diese Menschen in großen Webforen zusammen. In diesen Foren, die in besonders ausgeprägter Form in den USA existieren, gibt es zu nahezu jedem Kriminalfall Einträge.
Wer sind diese Menschen, die zu Internetdetektiven werden?
Wir sprechen von Menschen aller Couleur: Vom pensionierten Beamten über einen Forensiker bis hin zu einer Person, die in der Textilbranche gearbeitet hat – all diese Menschen diskutieren mit uns, bringen entsprechendes Fachwissen in den Diskurs ein. Ihr Anspruch ist es, den Fall nicht selbst zu lösen, sondern die entscheidenden Hinweise zur Lösung oder Wiederaufnahme eines Falls an die Ermittlungsbehörden weiterleiten zu können.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass es um echte Schicksale geht …
So ist es. Der Anspruch, Opfern ein Gesicht zu geben, spielt eine entscheidende Rolle. Den Internetdetektiven geht es darum, Familienangehörigen, die nicht wissen, was ihren Töchtern oder Söhnen zugestoßen ist, Gewissheit zu geben. Wir sprechen also auch von einer Aufgabe, die einen ethischen und moralischen Anspruch hat.
Ist Websleuthing also etwas Persönliches?
Ja, es scheint den Menschen ein persönliches Bedürfnis zu sein. Sicherlich spürt nicht jeder Mensch dieses Verlangen, aber das Bedürfnis, einem Opfer ein Gesicht zu geben, spielt eine große Rolle. Diese Erfahrung habe auch ich gemacht, als ich gemeinsam mit einer Kollegin gewissermaßen zu einem Internetdetektiv wurde.
Inwiefern?
Mich hat die Geschichte zweier Niederländerinnen, die 2014 auf mysteriöse Weise in Panama verschwunden sind, sehr bewegt. Weit über die Niederlande hinaus ist dieser Fall zu einem der größten True-Crime-Fälle geworden. Je mehr ich mich mit dieser Geschichte beschäftigt habe, umso deutlicher habe ich festgestellt, dass ich es nur schwer ertragen kann, dass seit nunmehr zehn Jahren jede Spur der beiden Frauen fehlt. Als Familienangehörige nicht zu wissen, was ihnen geschehen ist, muss schrecklich sein. Ich bin selbst Vater und möchte gerne einen Teil dazu beitragen, Antworten zu finden. In meinem konkreten Fall bedeutet das: Ich bin Fachjournalist und verfüge über eine journalistische Expertise, die ich entsprechend anwenden kann.
Wie ging es dann weiter?
Ich habe mich mit einer Investigativjournalistin zusammengetan, die mehrere Monate in Panama verbringen konnte und deren Expertise in Mittelamerika lag. Insofern konnten wir, in der Hoffnung, etwas in dem Fall bewegen zu können, zwei Expertisen miteinander vermengen. Herausgekommen ist das Buch "Verschollen in Panama".
Wie Ermittlungsbehörden und Internetdetektive zusammenarbeiten können
Es gibt tatsächlich Fälle, in denen die Recherchen der Internetdetektive zu einem Erfolg führen konnten. Kann aber auch ein gegenteiliger Effekt eintreten, der laufende Ermittlungen möglicherweise gefährdet?
Auf jeden Fall. Wir sprechen hierbei natürlich von einem zweischneidigen Schwert. Im Rahmen verschiedener Studien wurden digitalisierte Websleuth-Foren untersucht. Dabei konnte diesen Gruppen stets ein positives Bild bescheinigt werden. Die Mitglieder müssen sich an strenge Regeln halten – etwa daran, keine Falschverdächtigungen zu äußern. Zudem müssen die angegebenen Expertisen nachgewiesen werden.
An diesen Bedingungen können sich soziale Netzwerke wie Facebook eine Scheibe abschneiden. Hier spielen Probleme wie Hetze und Mobbing eine große Rolle. Bedeutet: Die Fälle von Websleuthing, die gescheitert sind, sind häufig in Netzwerken wie Facebook oder TikTok zu verorten. Dort agieren keine professionalisierten Internetdetektive, sondern Menschen, die vornehmlich hetzen wollen.
Wie findet diese Hetze statt?
Etwa indem Namen, Telefonnummern oder Wohnorte einer vermeintlich verdächtigen Person veröffentlicht werden. Hier bewegen wir uns in dem Bereich der Selbstjustiz, was ein großes Problem ist und Ermittelnde vor Herausforderungen stellt, weil die tatsächlichen Ermittlungen auf diese Weise gestört werden.
Dennoch können Ermittlerinnen und Ermittler hierzulande nicht auf Öffentlichkeitsfahndungen verzichten …
Richtig. Die Öffentlichkeitsfahndung ist eine der erfolgreichsten Möglichkeiten. Das zeigen uns seit Jahrzehnten Formate wie "Aktenzeichen XY … Ungelöst" mit einer beeindruckenden Trefferquote. Insofern bietet sich die Hoffnung, dass in Deutschland in Zukunft mehr von einem kollektiven Schwarmwissen zwischen Ermittlungsbehörden und Internetdetektiven profitiert werden kann. In den USA lässt sich dieser Trend bereits beobachten. Wir sprechen hier von sogenanntem "Crowdsolving" – also dem Lösen im Kollektiv.
Halten Sie das Ermitteln im Kollektiv für grundsätzlich möglich?
Wir leben im digitalen Zeitalter, das kollektive Ermittlungen ermöglicht. Plattformen wie Twitter oder Facebook laufen aus dem Ruder, doch es wird in Zukunft Foren geben, die als eine Instanz dienen könnten, um das geballte Wissen von Internetdetektiven zu verbreiten und anzuwenden. Auch wenn der Internetdetektiv also keine Berufsbezeichnung ist, hat er dennoch eine wichtige Aufgabe inne, die dem Aufklärungsanspruch eines Polizeiermittlers ähnelt. Es geht darum, ungeklärte Schicksale aufzudecken.
Insofern sehe ich die Aufklärung von Verbrechen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nicht nur die Polizei etwas angeht. Es geht um den Anspruch der Menschen auf Gerechtigkeit und Wahrheit – das geht uns alle etwas an.
Über den Gesprächspartner:
- Dr. Christian Hardinghaus ist Medienwissenschaftler und Autor. In seinem Buch "Die Sucht nach Verbrechen. Wie Internetdetektive in True Crime Fällen ermitteln" untersucht er die psychologischen, medienwissenschaftlichen und kulturellen Aspekte des Genres True Crime.
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