• Sein 50. Jubiläum feiert der "Tatort" mit einem zweiteiligen Crossover-Krimi mit den Teams aus Dortmund und München.
  • Die Kommissare verfolgen die Spuren des mächtigen kalabrischen Mafia-Clans 'Ndrangheta.
  • Die "Tatort"-Doppelfolge "In der Familie" gleicht einem dramatischen Kammerspiel und zeigt, wozu der Sonntagskrimi fähig ist.
Eine Kritik

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Der "Tatort" wird 50 Jahre alt, doch gefeiert wird das nicht mit einer Geburtstagsparty. Party kann ja jeder. Die geladenen Gäste, die Zuschauer, mit einer mitreißenden Tragödie zu packen, sie Erschütterndes ansehen und intensiv fühlen zu lassen – das muss man sich erst einmal trauen. Das kann nicht jeder.

Ein Geschenk an alle "Tatort"-Fans

Der "Tatort" traut sich und die Regisseure Dominik Graf und Pia Strietmann können es. "In der Familie" zeigt, wozu der "Tatort" fähig ist – auch deshalb sein kann, weil er ja selbst eine Art Familienangelegenheit ist: Produkt einer Senderfamilie, eines Filmteams und ein – sagen wir es anlässlich des Geburtstags ruhig einmal pathetisch: Geschenk an eine eingeschworene Gemeinschaft aus Fans.

Nicht die unkritischen Jubelkreischer, die Popstars haben, sondern eher Anhänger von der Sorte Fußballfan. Die, die auch mal richtig wütend werden, wenn ihr Verein versagt. Weil sie ihn so gut kennen, schon so lange mitfiebern. Weil sie hohe Ansprüche haben.

Für all die ist "In der Familie" gedacht. Weil Familien mit starker Bindung eben einiges aushalten können. Im Crossover-"Tatort" ermittelt erst das Dortmunder Team unter der Regie von Dominik Graf. Dieses bekommt Besuch von den Kollegen aus München - nächsten Sonntag führt Regisseurin Pia Strietmann den Fall nach Bayern.

Alles für die "Familie"

Vordergründig erzählt "In der Familie" die Geschichte von Luca und Juliane Modica (Beniamino Brogi und Antje Traue). Das Paar betreibt in Dortmund ein italienisches Restaurant und freut sich jetzt schon auf die Freiheit, die ihnen winkt, wenn ihre 17-jährige Tochter Sofia in zwei Jahren aus dem Haus ist.

Die Arbeit ist anstrengend, aber die schöne Wohnung, das angenehme Leben, das können sie sich nur deshalb leisten, weil das Lokal der 'Ndrangheta, der kalabrischen Mafia, als Drogenumschlagplatz dient und Luca dafür entlohnt wird. Er stammt aus Süditalien, er gehört zur "Familie". Ein Mal im Monat parkt im Hof ein Laster mit Kokain in Tomatendosen, einmal im Monat gibt es einen Scheck.

Aber diesmal bringt der Lkw außerdem noch Pippo Mauro (Emiliano de Martino) mit. Pippo hat in München einen Mann erstochen, jetzt benötigt er einen Unterschlupf, schließlich gehört er auch zur Familie.

Pippo ist der Typ hektisches Frettchen, scheinbar harmlos - aber angetrieben von Gefühlskälte und Geltungsgier und deshalb besonders gefährlich.

Für die Familie Modica bedeutet er nichts Gutes, das erkennt man sofort. Aber das Drehbuch von Bernd Lange ist so dicht, die Regie von Dominik Graf so konzentriert, das Spiel aller Beteiligten so intensiv, dass man großes Unheil kommen sieht - und um nichts in der Welt wegschauen möchte.

Pippo stachelt Luca an: Was das denn für ein armseliger Pizzaschuppen sei; mit der 'Ndrangheta im Rücken könne man doch noch so viel mehr auf die Beine stellen, so viel mehr Angst einjagen, so viel mehr Geld verdienen.

Langsam fängt Luca Feuer und Tochter Sofia (Emma Preisendanz) findet Pippo sowieso cool. Da beginnt Juliane zu begreifen, was es bedeutet, die 'Ndrangheta im Rücken zu haben. Man muss sich für eine Familie entscheiden, aber eine Entscheidungsfreiheit hat man nicht.

Juliane und Luca nehmen sie sich trotzdem, jeder auf seiner Weise, und sorgen so für genau jene Eskalation, auf die Kommissar Fabers Team gewartet hat.

Ermittlungen im Flair einer dysfunktionalen Familie

Denn das hat die Pizzeria schon länger im Auge. Nur ist Herumsitzen und Beobachten bekanntlich nicht gerade Fabers Stärke.

Als Nora Dalay (Aylin Tezel) bemerkt, dass Juliane Zweifel zu plagen scheinen und die Kommissarin vorschlägt, im gemeinsamen Fitnessstudio das Vertrauen der potentiellen Kronzeugin zu gewinnen, willigt Peter Faber (Jörg Hartmann) ein.

Die Kollegen Martina Bönisch (Anna Schudt) und Jan Pawlak (Rick Okon) sind weniger begeistert. Denn ganz legal ist das Vorgehen nicht, und es bringt Juliane in große Gefahr.
Und jetzt beginnt sich die Schraube ganz unerbittlich zuzudrehen. Unter dem Druck, unter der eskalierenden Gewalt und Unerbittlichkeit der Mafiagesetze fängt nicht nur das Fundament der Familie Modica an, langsam zu bröckeln. Jetzt wird auch klar, warum die Dortmunder das perfekte Team für "In der Familie" sind.

Diese Ermittler haben genug mitgemacht, um die Wucht der Geschichte glaubhaft um die Ohren geschlagen zu bekommen. Ihre Fälle haben ja selbst oft etwas von den Dramen einer dysfunktionalen Familie.

Mal ist Faber der coole Dad, an dessen lockerer Leine die jungen Kommissare sich austoben und entgegen der Vorschriften mit Leidenschaft für das Gute kämpfen können. Mal muss Bönisch als mitfühlende Mutter wegen des tyrannischen Autokraten, der Faber auch sein kann, Trost spenden.

Vom komplizierten Verhältnis der beiden zueinander ganz zu schweigen. Mal rebelliert "Tochter" Dalay, mal verlässt ein zutiefst verletzter Sohn das Elternhaus, wie Kommissar Daniel Kossik 2017 das Team.

"In der Familie" bringt diese "Tatort"-Ermittler-Familie so nah an den Rand des Zusammenbruchs wie die Modicas. Die Kommissare Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) und Ivo Batic (Miroslav Nemec), die wegen des Mordverdachts gegen Pippo aus München angereist sind, betrachten das Psychodrama unter den Dortmunder Kollegen mit bayerisch brummelndem Kopfschütteln und sorgen für die Prise dringend benötigter Leichtigkeit. Bis auch sie nichts mehr zu lachen haben.

Ein Drama von Shakespeare'schem Ausmaß

Die Spannung wird immer unerträglicher, die Tragödie, die sich anbahnt, immer offensichtlicher.

Es geht um moralische Dilemmas von einer Größe, die den klassischen Sonntagabend-"Tatort" sprengen, und die so etwas wie Dominik Grafs Spezialität sind – auch seine Serie "Im angesichts des Verbrechens" erzählte 2010 mit Mafiamotiven von den Abgründen menschlichen Miteinanders.

Hier tut er es wieder. Aber er respektiert das Format und verwandelt es selbstbewusst in etwas Eigenes. Er lässt Hendrik A. Kleys Kamera eiskalt beobachten, er beschränkt seinen Kommentar auf viel Schatten, der sich über die Figuren, die Räume und die Stadt legt. Er verliert keine Zeit mit Kommissarsgeplänkel, Schreibtischarbeit und Mafiaromantik.

Er führt uns mit unerbittlicher Härte und Tempo tief ins dunkle Herz der Geschichte: "In der Familie" konzentriert sich auf genau das – auf den Familienkern. Aber dieser Kern implodiert und weitet sich zu einem Drama von Shakespeare'schem Ausmaß. So viel Leidenschaft, solch großes Leid - und gerade deshalb auch ein großes Glück: Am Ende des ersten Teils sitzt man sprachlos da und kann es gar nicht fassen, wozu ein "Tatort" fähig sein kann.

Eine Woche später, am Sonntag den 6. Dezember 2020, läuft die Fortsetzung. Dann geht es nach München, dann ermitteln Batic und Leitmayr. Aber gemütlich wird es nicht.

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