Ist die deutsche Wirtschaft ein Sanierungsfall oder ist das Schwarzmalen mancher Politik- und Wirtschaftsvertreter Jammern auf hohem Niveau? So sieht es aus in der größten Volkswirtschaft Europas.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Thomas Eldersch sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Diagnose ist niederschmetternd. Deutschland ist der „kranke Mann Europas“. Zum zweiten Mal nach Ende der 1990er-Jahre wird der Begriff verwendet. Sogar der deutsche Wirtschaftsminister spricht bei seiner Vorstellung der Konjunkturprognose für 2024 von einem "dramatisch schlechten" Wirtschaftswachstum von 0,2 Prozent.

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Klopft also das zweite Jahr in Folge die Rezession an Deutschlands Tür? Oder schreien die Schwarzmaler gerade nur besonders laut? Die Deutsche Bundesbank schreibt in ihrem ersten Quartalsbericht 2024: "Eine Rezession im Sinne eines deutlichen, breit angelegten und länger anhaltenden Rückgangs der Wirtschaftsleistung kann weiterhin nicht festgestellt werden und ist derzeit auch nicht zu erwarten." Dazu bewegen sich die Arbeitslosenzahlen konstant auf einem niedrigen Niveau und die Inflation nähert sich dem gewünschten Normalwert von zwei Prozent. Ist also doch alles nicht so schlimm?

Das läuft schlecht bei der deutschen Wirtschaft

Die Bundesregierung: Geschimpft wird auf die Ampel gerne und viel. So sagte Michael Hüther, Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), sie hätte "die Wirtschaft an die Wand gefahren". Er gesteht aber ein, dass multiple Krisen wie der Ukraine-Krieg, Nachwirkungen der Pandemie und die schwächelnde Weltwirtschaft, die Ausgangslage negativ beeinflussen. Mit dem geplanten Wachstumschancengesetz könnten jetzt allerdings erste Entlastungen für die Wirtschaft auf den Weg gebracht werden.

Die größere Baustelle sehen die meisten Wirtschaftsexperten jedoch in der Schuldenbremse. "Die schwache Konjunktur ist auch ein Resultat der Schuldenbremse", sagte DIW-Chef Marcel Fratzscher (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) im Gespräch mit unserer Redaktion. Oder wie es die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer im Interview mit unserer Redaktion ausgedrückt hat: "Die Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form ist ein Korsett, das nicht viel Gestaltungsspielraum lässt." Die Experten sind sich einig: Die Ampel müsse mutiger agieren, mehr investieren und damit langfristig die Wirtschaft stabilisieren.

Überalterung der Gesellschaft: Das Statistische Bundesamt schrieb 2022, dass bis 2036 12,9 Millionen Menschen oder 30 Prozent "der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Erwerbspersonen" in Rente gehen werden. Dem gegenüber stehen in der Altersgruppe der 15-25-Jährigen nur 8,4 Millionen Erwerbspersonen. Wie also die Lücke füllen?

Die Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, sagte unserer Redaktion: "Es gibt viele Stellhebel, mit denen wir das Problem angehen können: Nachwuchs, Ältere, höheres Arbeitsstundenvolumen bei Frauen und Automatisierung." Der Rest wird wohl nur durch gezielte Migration und schnellere Integration von anerkannten Geflüchteten in den Arbeitsmarkt zu stemmen sein.

Fachkräftemangel: Vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) heißt es: "Mehr als 50 Prozent der Unternehmen sehen darin die größte Gefahr für ihre Geschäftsentwicklung." Aber: Der demografische Wandel und das Fachkräfteproblem gehen Hand in Hand. Mit der Lösung des Überalterungsproblems kann auch dem Fachkräftemangel entgegengewirkt werden.

Schwächelnde Weltwirtschaft: Nicht nur in Deutschland haben die multiplen Krisen zu Problemen geführt. Auch die Weltwirtschaft schwächelt. Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht 2024 lediglich von einem globalen Wachstum von 2,9 Prozent aus (2023: 3,0 Prozent, 2022: 3,5 Prozent). Die OECD rechnet sogar nur mit 2,7 Prozent. Besonders um den Euroraum steht es nicht gut. Das Wachstum wurde für 2023 vom IWF mit 0,7 Prozent, von der OECD mit 0,6 Prozent, beziffert. Es lag 2022 noch bei 3,6 Prozent.

Für ein Exportland wie Deutschland sind solche Zahlen Gift. Dazu kommt: Besonders Deutschlands wichtigster Handelspartner China steckt in der Krise. Laut Statistischem Bundesamt war die Volksrepublik 2023 zum achten Mal in Folge größter Handelspartner der Bundesrepublik mit einem Handelsvolumen von 253,1 Milliarden Euro. Chinas Importe gingen 2023 aber um 5,5 Prozent zurück, für 2024 sieht die Prognose ebenfalls düster aus.

Das läuft gut bei der deutschen Wirtschaft

Die Bundesregierung: Trotz all der teilweise berechtigten Kritik an der Ampel, hat es die Regierung in Berlin geschafft, im Energiesektor stabile Verhältnisse zu schaffen. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine wurde prophezeit, Deutschland würde das Gas ausgehen. Aber dem Land ging das Gas nicht aus. Die Versorgung in den beiden vergangenen Wintern wurde sichergestellt, schreibt die Bundesnetzagentur. Der aktuelle Speicherstand (Anfang März) steht bei 68 Prozent – er hätte zum 1. Februar mindestens 40 Prozent betragen müssen.

Auch die Gefahr eines Blackouts nach dem Abschalten der Kernkraftwerke konnte gebannt werden. 2023 wurde ein rekordträchtiger Anteil von knapp 60 Prozent am Strommix in Deutschland durch erneuerbare Energien erzeugt. Gleichzeitig sank die Verstromung von Braunkohle (-27 Prozent) und Steinkohle (-35 Prozent) laut Fraunhoferinstitut massiv.

Die Bundesregierung will außerdem mit dem geplanten Wachstumschancengesetz die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft verbessern. Darin enthalten sind etwa steuerliche Entlastungen von kleinen und mittleren Unternehmen in Höhe von rund 3,2 Milliarden Euro pro Jahr, der Abbau von Bürokratie und finanzielle Unterstützung bei klimafreundlichen Investitionen, wie es auf der Internetseite der Bundesregierung heißt.

Erfolgreiche Top-Unternehmen, solider Mittelstand: Für die deutschen Top-Unternehmen läuft's. Jüngst gab beispielsweise die Lufthansa bekannt, dass sich ihr Gewinn verdoppelt habe. Und auch der Dax, der Leitindex der 40 stärksten Firmen Deutschlands, knackt einen Rekord nach dem anderen. Am 7. März erreichte er mit 17.879,11 Punkten ein Allzeithoch. Nur in der Bau- und Wohnungsbranche ist die Lage aufgrund der weiter hohen Zinsen angespannt. Dennoch konnte Deutschlands größter Immobilienkonzern Vonovia zuletzt ein Plus auf dem Aktienmarkt verbuchen.

Für das oft beschriebene Herz der deutschen Wirtschaft, den Mittelstand, läuft es laut jüngstem KfW-Bank-Bericht ebenfalls gut. Dort heißt es unter anderem: "Die Kapitalstruktur der mittelständischen Unternehmen zeigt sich auch angesichts der jüngsten Krise ausgesprochen robust." Des Weiteren nahm die Investitionstätigkeit zuletzt weiter zu. "Befürchtungen einer krisenbedingt scharfen unterjährigen Anpassung von Investitionen haben sich nicht bestätigt."

Dennoch identifiziert der Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW) in seinem jüngsten Positionspapier [PDF-Dokument] die hohe Steuerlast, die ausufernde Bürokratie und die fehlenden Investitionen des Staats als Wettbewerbsnachteil und fordert eine schnelle Umsetzung des Wachstumschancengesetzes.

Stabile Arbeitslosenzahlen: Die Arbeitslosenquote stieg zuletzt zwar wieder über sechs Prozent, zeigte sich aber trotz der letztjährigen Rezession äußerst stabil. Seit 2015 lag sie konstant unter sieben Prozent. Der schwachen Wachstumsprognose zum Trotz soll dieses Jahr die Beschäftigung anwachsen, erklärte Nahles. Nur bei gering qualifizierten Menschen werde sie wohl ansteigen.

"Wer nach Deutschland kommt und hier arbeiten will, trifft auf einen Hindernisparcours."

Andrea Nahles, Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit

Gesunkene Inflation, gesteigerte Konsumkraft: Die Inflation ist laut Statistischem Bundesamt im Februar auf 2,5 Prozent gesunken und ist damit so niedrig wie seit Juni 2021 nicht mehr. Selbst das Auslaufen der Energiepreisbremsen zu Beginn des Jahres hat nicht zum erneuten Anstieg der Inflationsrate geführt. Der von der Regierung angestrebte Wert von zwei Prozent ist in greifbare Nähe gerückt.

Dazu hat laut Wirtschaftsministerium 2023 das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte mit einem Plus von 5,9 Prozent „spürbar zugenommen“. Löhne und Gehälter stiegen um 6,5 Prozent. Zudem haben Verbraucher in der Phase hoher Inflation viel Geld angespart. KfW-Chefvolkswirtin Fritzi Köhler-Geib sagte deshalb unlängst der dpa, dass eine positive Nachricht für die Konjunktur "die absehbare Erholung der privaten Kaufkraft", sei.

Geflüchtete: Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 sind über eine Million Menschen aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Viele von ihnen haben ein hohes Bildungsniveau und werden zunehmend in den Arbeitsmarkt integriert. Tausende haben bereits Integrationskurse erfolgreich abgeschlossen und stehen jetzt dem Arbeitsmarkt zur Verfügung.

Nachholbedarf gibt es noch bei Menschen aus Drittstaaten. Wer von dort "nach Deutschland kommt und hier arbeiten will, trifft auf einen Hindernisparcours", sagte Arbeitsagentur-Chefin Nahles im Interview. Hier sei Deutschland noch ein Frischling, was die Integration angehe.

Fazit

Die deutsche Wirtschaft hat ohne Zweifel mit Problemen zu kämpfen. Internationale Krisen und schwächelnde Märkte belasten die Konjunkturaussichten. Derweil schlummert besonders auf dem eigenen Arbeitsmarkt ein großes Potenzial, der Angst vor Fachkräftemangel und Überalterung größtenteils den Schrecken zu nehmen.

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