Unternehmen in ganz Deutschland suchen händeringend Fachkräfte – und finden keine. Was muss passieren, damit der Fachkräftemangel das Land nicht noch stärker bremst? Andrea Nahles, Chefin der Bundesagentur für Arbeit plädiert dafür, endlich das Potenzial im Land besser zu nutzen – und Zuwanderern den Weg in den deutschen Arbeitsmarkt erleichtern.

Nieselregen, graues Wetter: Die Aussicht an dem Tag, an dem wir Andrea Nahles in Nürnberg treffen, ist ähnlich trüb, wie die Stimmung innerhalb der deutschen Wirtschaft. Der Laune der Chefin der Bundesagentur für Arbeit tut dies keinen Abbruch. Gut gelaunt erscheint sie zu dem Gespräch im Hauptsitz ihrer Behörde.

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Einen Meeting-Marathon hat die Ex-SPD-Chefin schon hinter sich, ein weiterer steht ihr nach dem Interview noch bevor. Pünktlich weg müsse sie deswegen, warnt die 53-Jährige – und nimmt sich dann doch fast 15 Minuten länger Zeit für unsere Fragen als ursprünglich geplant.

Es geht um den Fachkräftemangel, einer der großen Sorgen Deutschlands. Millionen Menschen gehen in den kommenden Jahren in Rente. Deutlich weniger rücken in den Arbeitsmarkt nach. Die Aufgabe, für das alles eine Lösung zu finden, ist riesig – Andrea Nahles zeigt sich dennoch optimistisch.

Frau Nahles, die Wirtschaft steckt in der Rezession, die Bundesregierung hat die Wachstumsprognose für dieses Jahr jüngst drastisch nach unten korrigiert. Wie lang dauert es noch, bis sich die Lage auch in der Zahl der Entlassungen widerspiegelt?

Die Frage ist, ob das überhaupt passiert. Natürlich hat eine Rezession beziehungsweise eine schlechte Wachstumsprognose mittelfristig einen gewissen Effekt auf den Arbeitsmarkt. Aber wir stellen fest, dass sich deren Durchschlag abgedämpft hat, weil gleichzeitig so viele Stellen unbesetzt sind. Wir rechnen nach den jüngsten Prognosen dieses Jahr mit einem Beschäftigungswachstum und steigenden Arbeitslosenzahlen.

Und wer läuft dann Gefahr, seinen Job zu verlieren?

Wir vermuten, dass sich die Arbeitslosigkeit von Menschen, die nicht gut qualifiziert sind, nochmal verschlechtern wird. Gut Qualifizierte haben eine höhere Chance, ihren Job zu behalten oder schnell einen neuen zu finden. Wir sehen also eine Spaltung des Arbeitsmarkts - und es gibt noch eine Zweite.

Die da wäre?

Eine Spaltung entlang der Branchen. Unternehmensbezogene Dienstleistungen, IT-Berufe, Gesundheits- und Pflegebereich – all diese Branchen wachsen momentan. Nach unten geht es hingegen zum Beispiel bei Zeitarbeit, dem Handel, in Teilen des verarbeitenden Gewerbes und im Bau.

"Im Endeffekt müssen wir den Nachschub an Menschen ohne Schulabschluss austrocknen"

Andrea Nahles, Chefin der Bundesagentur für Arbeit

Etwa 80 Prozent der offenen Stellen sind bei der Arbeitsagentur für Fachkräfte ausgeschrieben. Ungefähr 70 Prozent der gemeldeten Arbeitslosen sind allerdings unqualifiziert. Lässt sich diese Diskrepanz überhaupt überbrücken?

Ich will nicht drum herumreden: Das ist schwierig – aber möglich. Wir haben hunderttausende Geringqualifizierte im vergangenen Jahr weitergebildet. Für Langzeitarbeitslose haben wir einen sozialen Arbeitsmarkt geschaffen. Sie werden über mehrere Jahre gecoacht und gefördert. Und wir erzielen damit gute Erfolge.

Ist das also der Lösungsansatz? Fortbildungen?

Im letzten Jahr haben rund 51.000 junge Menschen die Schule ohne Abschluss verlassen. Diese Zahl war seit 2011 relativ stabil bei 47.000 und ist im vergangenen Jahr gestiegen. Gleichzeitig sehen wir, dass in vielen Jobs inzwischen mehr vorausgesetzt wird – ein sogenannter Upskilling-Effekt. Wir müssen also Menschen ohne Schulabschluss in immer komplexere Berufe bringen.

Und wie?

Ich appelliere, dass wir zum Beispiel in den Schulen früher mit der Berufsorientierung beginnen. Da reicht nicht nur eine Woche Praktikum in der neunten Klasse. Wir brauchen ab der fünften Klasse praktische Einheiten im Unterricht, um die Berufswahlkompetenz zu stärken. Da wollen sich auch viele Betriebe gern stärker einbringen. Im Endeffekt müssen wir den Nachschub an Menschen ohne Schulabschluss austrocknen.

Das löst aber immer noch nicht das Problem, dass wir künftig einfach weniger Arbeitskräfte haben werden. Stichwort: Demografischer Wandel.

Bis 2035 werden uns sieben Millionen Arbeitskräfte fehlen. Die Hälfte davon können wir durch inländisches Potenzial ausgleichen. Arbeitslose, Ältere, Frauen, Schulabgänger. Da gibt es noch Potenziale. Wenn man beispielsweise die geleisteten Arbeitsstunden von Frauen im internationalen Vergleich betrachtet, liegt Deutschland auf dem vorletzten Platz in Europa. Arbeitgeber sollten Frauen mehr Flexibilität bei der Arbeitszeit und bei der Betreuung der Kinder ermöglichen. Die noch bleibende Lücke kann durch gezielte Zuwanderung geschlossen werden.

Vor rund einem Jahr haben Sie konstatiert, manch ein Arbeitgeber würde sich mit dem "Wechsel vom Arbeitgeber- zum Arbeitnehmermarkt" schwertun. Sehen Sie inzwischen Besserung?

Ich würde das immer noch als Baustelle bezeichnen, aber das Bewusstsein ist gewachsen, die Unternehmen sind offener geworden. Wir beraten hier auch Unternehmen und regen an, in den Stellenausschreibungen anzugeben, wenn sie Homeoffice oder flexible Arbeitszeitgestaltung anbieten. Es gibt aber auch noch Orientierungsbedarf, was möglich ist und was nicht.

Viele große Unternehmen rudern beim Homeoffice gerade zurück und holen das Personal verstärkt zurück ins Büro. Fachkräfte dürfte das eher abschrecken.

Die Hintergründe für diese Entscheidungen kenne ich nicht und will sie deswegen auch nicht kommentieren. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass solche Maßnahmen leichtfertig und ohne vorherige Analyse getroffen werden. Aus meiner Perspektive als Führungskraft empfehle ich einen guten Mix, wo es möglich ist. Ich kenne aber auch die Herausforderungen, die durch Homeoffice entstehen. Manche Aufgaben können gut von zu Hause aus erledigt werden - Führung auf Distanz ist aber schwieriger. Man muss hier versuchen, einen Mittelweg zu finden. Es braucht Balance zwischen betrieblichen Erfordernissen und den Wünschen der Belegschaft.

Von Arbeitgeberseite und der Union wird immer wieder gefordert, dass wir wieder mehr und länger arbeiten sollen. Müssen wir uns darauf einstellen?

Wir sehen jetzt schon, dass die Menschen seit 2015 kontinuierlich länger arbeiten. Damals haben 36 Prozent länger als bis zum 60. Lebensjahr gearbeitet. Heute sind es schon 51 Prozent. Aber um das Problem des Fachkräftemangels zu lösen, gibt es viele Stellschrauben. Ein höheres Arbeitsstundenvolumen ist nur eine davon.

Aber die Forderung nach mehr Arbeit dominiert die Debatte.

Da müssen Sie die Leute fragen, die sich dazu positionieren. Ich kann nur sagen, dass man auch die Lebensarbeitszeit im Blick behalten sollte. Junge Menschen, die frisch in den Job gestartet sind, können häufig mehr arbeiten. Sobald es mit der Familienplanung losgeht, nimmt der Wunsch nach familiengerechter Arbeitszeit zu, weil vielleicht auch die Betreuungssituation fragil ist. Wenn die Kinder dann größer sind, kann man vielleicht wieder mehr Stunden arbeiten, vielleicht nochmal Karriereziele verwirklichen. Es wäre sinnvoll hier den Blick zu weiten. Das Leben verläuft in Wellenform und lässt sich selten in feste Strukturen pressen.

"Wir sind als Einwanderungsland totale Frischlinge."

Andrea Nahles, Chefin der Bundesagentur für Arbeit

Eine andere Stellschraube wären die Zuwanderer aus der Ukraine. Doch da stockt die Integration in den Arbeitsmarkt.

Das kann man so nicht sagen. Wir haben die Menschen aus der Ukraine zunächst in die Integrationskurse geschickt, um Deutsch zu lernen. Und das haben sie zu Hunderttausenden auch gemacht. Das ist wichtig, weil der deutsche Arbeitsmarkt ein deutschsprachiger Arbeitsmarkt ist. Jetzt, wo sie grundständig Deutsch können, muss der Fokus auf die Integration in Arbeit gelegt werden. Das tun wir mit dem "Job-Turbo". Und da geht auch mehr "Nebeneinander" beim Spracherwerb. Hier in Nürnberg habe ich zum Beispiel zwei junge Geflüchtete getroffen, die 25 Stunden pro Woche in einer Apotheke arbeiten. Nebenbei haben sie auch noch 20 Stunden Sprachkurs in der Woche. Das bekommen sie hin, obwohl sie drei Wochen lang nichts mehr von ihrer Familie im Donbass gehört haben. Als ich das gehört habe, war mir klar, was die beiden wirklich leisten.

Trotzdem: Nur 21 Prozent der ukrainischen Geflüchteten in Deutschland sind berufstätig. In anderen Ländern funktioniert das besser. Warum?

Ist das so? Bei diesen Vergleichen muss man vorsichtig sein. Die Polen rechnen zum Beispiel alle Ukrainer mit in ihre Statistik ein. Auch jene, die schon vor dem Krieg im Land gearbeitet haben – und das sind einige. Die Niederländer wiederum stellen viele ukrainische Geflüchtete auf Minijobbasis ein. Viele arbeiten auch auf Abruf ohne feste Arbeitszeiten. Wenn man sich die Integrationsquoten im mittelfristigen Vergleich anschaut, steht Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern gut da.

An den Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Civey kann jeder teilnehmen. In das Ergebnis fließen jedoch nur die Antworten registrierter und verifizierter Nutzer ein. Diese müssen persönliche Daten wie Alter, Wohnort und Geschlecht angeben. Civey nutzt diese Angaben, um eine Stimme gemäß dem Vorkommen der sozioökonomischen Faktoren in der Gesamtbevölkerung zu gewichten. Umfragen des Unternehmens sind deshalb repräsentativ. Mehr Informationen zur Methode finden Sie hier, mehr zum Datenschutz hier.

Der Ökonom Marcel Fratzscher sagte uns im Interview: Schuld an der langsamen Integration von ukrainischen Flüchtlingen ist "vor allem das System mit seiner Bürokratie und all seinen Hürden, etwa bei der Anerkennung von Qualifizierungen." Hat er recht?

Die Geflüchteten aus der Ukraine sind für diese Probleme ein schlechtes Beispiel, weil sie mit viel weniger Bürokratie konfrontiert sind als andere Gruppen. Schließlich wurden die Ukraine-Geflüchteten sofort im zweiten Sozialgesetzbuch betreut. Die Menschen der Fluchtbewegung 2015, 2016 mussten hingegen jahrelang warten, um überhaupt in den Arbeitsmarkt integriert werden zu können.

Und wenn wir Zuwanderung generell betrachten?

Dann gebe ich Herrn Fratzscher recht. Jemand, der aus einem Drittstaat nach Deutschland kommt und hier arbeiten will, trifft auf einen Hindernisparcours. Von der Visastelle über die Anerkennung des Berufs bis hin zur Ausländerbehörde, all das sind Hürden für die Integration. Wir sind als Einwanderungsland totale Frischlinge und müssen dringend besser werden. Aber es gibt ein stärkeres Bewusstsein für diese Probleme und in den letzten Monaten vernünftigere Debatten. Es bewegt sich was.

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Über die Gesprächspartnerin:

  • Andrea Nahles wurde 1970 in Mending (Rheinland-Pfalz) geboren. Schon früh engagierte sie sich in der Politik und gründete 1989 sogar einen Ortsverband in Weiler. Nach einem Studium der Germanistik und Politikwissenschaft ging es für sie direkt in die Politik. 1998 zieht sie für die Sozialdemokraten zum ersten Mal in den Bundestag ein. Von 2009 bis 2013 übernahm sie das Amt als SPD-Generalsekretärin. Im Anschluss war sie bis 2017 als Ministerin für Arbeit und Soziales Teil des Kabinetts Merkel 3. Von 2018 bis zu ihrem Rückzug aus der Politik 2019 war sie Vorsitzende der Bundes-SPD. Nach dem Ende ihrer politischen Karriere übernahm sie das Amt der Präsidentin der Bundesanstalt für Post und Telekommunikation Deutsche Bundespost. Seit August 2022 ist sie Chefin der Bundesagentur für Arbeit.
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