Der Ökonom Marcel Fratzscher hält die Kürzungen bei den Landwirten für richtig. Im Interview sagt der DIW-Chef außerdem, wie er die Schuldenbremse reformieren würde – und warum andere Länder ukrainische Geflüchtete schneller in den Arbeitsmarkt integrieren.

Als Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ist Marcel Fratzscher, 52, einer der einflussreichsten Ökonomen Deutschlands. Immer wieder meldet er sich in wirtschaftspolitischen Debatten zu Wort – und kritisiert die Politik mitunter deutlich.

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Das tut Fratzscher auch im Interview mit unserer Redaktion. Ein Gespräch über unterschiedliche Protestformen, die Bedeutung solider Staatsfinanzen und einen Arbeitsmarkt im Wandel.

Herr Fratzscher, deutsche Landwirte protestieren aktuell gegen die Sparpläne der Bundesregierung. Haben Sie dafür Verständnis?

Marcel Fratzscher: Ich habe Verständnis für den Ärger jeder Gruppe, der Leistungen gekürzt werden. Natürlich stellt sich immer die Frage: warum wir? Und es erzeugt zusätzlich Frust, wenn im Dezember in einer Nacht- und Nebelaktion Streichungen beschlossen werden, die ab Januar gelten sollen. In der Sache sind die Kürzungen aber richtig.

Warum?

Es geht um Privilegien bei der KFZ-Steuer und beim Agrardiesel. In beiden Fällen handelt es sich um klimaschädliche Subventionen, die abgebaut werden – das ist im Sinne der Umwelt. Wenn aber Privilegien abgebaut werden, gibt es auch immer Leidtragende. In diesem Fall sind es die Bauern.

Allerdings steht auch die Landwirtschaft vor Herausforderungen, wenn sie ökologisch umgebaut werden soll. Das kostet Geld.

Natürlich, darum geht es. Daher müssen wir beides tun: Klimaschädliche Subventionen abbauen. Und da unterstützen, wo es notwendig ist. Ich denke an fairen Wettbewerb, das Tierwohl, Nachhaltigkeit und eine hohe Qualität landwirtschaftlicher Produkte. Nur: Um an der einen Stelle zu helfen, müssen die Mittel auch an anderer Stelle frei werden.

Die Koalition hat ihre Sparpläne – auch auf öffentlichen Druck der Landwirte – inzwischen abgemildert. Zeigt eine Lobby hier ihre Macht?

Ja. Aber ich sehe etwas anderes viel negativer. Dieser Vorgang sagt viel aus über die Bundesregierung und auch über uns als Gesellschaft.

Was meinen Sie damit?

Wenn Menschen auf die Straße gehen, um für Klimaschutz zu demonstrieren, dann ist die Empörung und Ablehnung groß. Manche Politiker bezeichnen sie als Terroristen und sprechen diesen Menschen legitime Ziele ab. Wenn aber Bauern auf die Straße gehen – die ohnehin schon riesige Subventionen vom Bund und von der EU bekommen –, dann ist sehr viel Verständnis da und die Politik gibt nach. Die Bundesregierung setzt hier die falschen Prioritäten.

Und auch wir als Gesellschaft?

Der Diskurs geht in die gleiche Richtung. Das ist ja der Grund, warum die Bundesregierung so schnell nachgegeben hat. Man will nicht gleich die nächste öffentliche Kampagne, die das Gefühl verstärkt, dass die Bundesregierung schlechte Entscheidungen trifft. Wie gesagt: Protest wird unterschiedlich bewertet. Und das sagt auch etwas über das Denken der Menschen aus.

SPD und Grüne wollen die Schuldenbremse auch in diesem Jahr aussetzen. Finanzminister Christian Lindner lehnt das ab. Es sei Parteipolitik auf dem Rücken der Menschen.

Ich sehe die Aussage des Bundesfinanzministers genau umgekehrt.

Das Festhalten an der Schuldenbremse bedeutet, dass Menschen gegeneinander ausgespielt werden.

Marcel Fratzscher, DIW-Präsident

Sie meinen: Wenn Herr Lindner an der Schuldenbremse festhält, betreibt er Parteipolitik auf dem Rücken der Betroffenen?

Ja. Das Festhalten an der Schuldenbremse bedeutet, dass Menschen gegeneinander ausgespielt werden. Wir reden bei der Hochwasserkatastrophe jetzt voraussichtlich von einer erheblichen Milliardensumme. So etwas kann man nicht einfach nebenbei aus dem laufenden Haushalt finanzieren. Das hat uns das Ahrtal-Hochwasser vor drei Jahren gelehrt. Wenn der Finanzminister also sagt, die Regionen sollen Hilfen erhalten, aber es wird keine Ausnahme von der Schuldenbremse geben, dann muss er sagen, wo er weitere Einsparungen machen will.

Sie haben die Schuldenbremse in der Vergangenheit immer wieder kritisiert. Wie müsste sie reformiert werden?

Es ist richtig, dass ein Staat sich Grenzen bei der Verschuldung setzt. Nur dürfen die nicht zu Lasten von Zukunftsinvestitionen und künftiger Generationen gehen. Die Schuldenbremse müsste also so reformiert werden, dass sie Zukunftsinvestitionen erleichtert. Diese Ausgaben bedeuten kurzfristig eine höhere Verschuldung, langfristig schaffen sie aber Wohlstand und rechnen sich für den Staat auch finanziell.

Woran denken Sie?

Wir wissen aus wissenschaftlichen Studien, dass 100 Euro, die der Staat heute in Bildung investiert, langfristig 200 bis 300 Euro an zusätzlichen Steuereinnahmen pro Jahr bringen.
Weil Menschen besser ausgebildet werden, damit produktiver am Arbeitsplatz sind, sich mehr leisten können und letztlich mehr Steuern zahlen.

Besteht dann nicht die Gefahr, dass jede zusätzliche Ausgabe als Investition deklariert wird, um durchgewunken zu werden?

Wir haben seit 2011 die Schuldenbremse. Die Bundesrepublik aber besteht schon länger. Und in den über 70 Jahren hat das Land unter allen großen Industrienationen mit die geringsten Staatsschulden. Kaum ein Land geht so vorsichtig mit Schulden um – auch ohne Schuldenbremse. Der deutsche Staat ist schlecht bei Zukunftsinvestitionen. Der Wertverlust – etwa durch marode Infrastruktur – war in den letzten 20 Jahren größer als die getätigten öffentlichen Investitionen.

Trotz der Wirtschaftskrise hat sich der Arbeitsmarkt robust gezeigt. In diesem Jahr könnte die Arbeitslosigkeit Prognosen zufolge aber wieder deutlich steigen. Kippt der Arbeitsmarkt?

Nein. Wir haben mit 46 Millionen Menschen in Arbeit eine Rekordbeschäftigung. Die Arbeitslosigkeit wird zwar voraussichtlich in diesem Jahr weiter steigen, aber auch die Beschäftigung wird zulegen. Beides ist eine Folge der Zuwanderung, etwa durch Geflüchtete aus der Ukraine. Die kommen jetzt entweder zunehmend in Arbeit oder sie werden als arbeitslos erfasst.

Ist Deutschland zu langsam bei der Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt?

Deutschland muss sich deutlich mehr anstrengen. Die Menschen, die zu uns kommen, sind eine riesige Chance. Wir haben ein Fachkräfteproblem und fast zwei Millionen offene Jobs. Unsere Nachbarländer sind erfolgreicher darin, ukrainische Geflüchtete in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das zeigt, dass es nicht an den Ukrainerinnen und Ukrainern liegt. Schuld ist vor allem das System mit seiner Bürokratie und all seinen Hürden, etwa bei der Anerkennung von Qualifizierungen.

Das Argument, dass sich Arbeit nicht lohnt, ist fehl am Platz

Marcel Fratzscher, DIW-Präsident

CDU-Chef Friedrich Merz geht davon aus, dass wir mehr Arbeitslose bekommen. Seine Diagnose: Das Bürgergeld ist zu hoch und für viele lohnt es sich nicht, arbeiten zu gehen.

Diese Aussage ist reiner Populismus und widerspricht den Tatsachen. Wir haben keinen Beleg für eine Kündigungswelle von Beschäftigten, die stattdessen lieber Bürgergeld beziehen. Auch das Argument, dass sich Arbeit nicht lohnt, ist fehl am Platz. Der Unterschied zwischen Mindestlohn und Bürgergeld, beziehungsweise vorher Hartz IV, ist seit 2015 sogar ein wenig gewachsen.

Also andersherum gefragt: Sind die Löhne zu niedrig?

Der Mindestlohn muss deutlich stärker steigen. Die Inflation in den vergangenen Jahren war sehr hoch – und das bildet die Mindestlohnerhöhung von 12 Euro auf 12,41 Euro nicht ab. Wir brauchen einen deutlich höheren Mindestlohn, damit die vielen Aufstocker, also Menschen, die arbeiten, aber so wenig verdienen, dass sie zusätzlich Hilfe vom Staat benötigen, endlich aus dem Bürgergeld kommen und genug durch ihre Arbeit verdienen.

Seit dieser Woche legt die GDL den Bahnverkehr lahm. Davon ist auch die Industrie betroffen. Wie groß ist der volkswirtschaftliche Schaden eines mehrtägigen Streiks?

Es gibt sicherlich einzelne Unternehmen, die darunter stark leiden. Unterm Strich denke ich trotzdem, dass sich der wirtschaftliche Schaden in Grenzen hält – zumindest, wenn es jetzt nicht immer wieder längere Streiks gibt. Das Problem liegt woanders: Durch solche Streiks werden Unternehmen verunsichert. Und das in einer Zeit, in der die Unsicherheit groß und die Nachfrage schwach ist. Das ist nicht gut.

Die deutsche Volkswirtschaft ist immer noch im Krisenmodus. Manche Ökonomen gehen davon aus, dass das BIP auch in diesem Jahr schrumpft. Was muss die Ampel tun, um die Konjunktur zu stützen?

Beim DIW gehen wir davon aus, dass die Volkswirtschaft in diesem Jahr irgendwo zwischen 0,6 und 0,8 Prozent wachsen könnte. Die Erholung könnte aber stärker ausfallen, wenn die Finanzpolitik unterstützend aktiv wäre.

Der Staat müsste also mehr Geld ausgeben, anstatt Ausgaben zu kürzen.

Ja. Die schwache Konjunktur ist auch ein Resultat der Schuldenbremse. In einer wirtschaftlich schwierigen Zeit müsste der Staat aktiver sein. Auch 2024 ist die Belastung vor allem für Menschen mit geringen und mittleren Einkommen hoch. Die gestiegene CO2-Abgabe, höhere Netzentgelte und die höhere Mehrwertsteuer in der Gastronomie und beim Gas – es gibt eine Reihe von Belastungen, die auch den Konsum und damit das Wachstum drücken. Ich hätte mir gewünscht, dass die Koalition auch in diesem Jahr die Schuldenbremse aussetzt, um Zukunftsinvestitionen zu tätigen und vor allem, um Menschen mit geringen Einkommen zu entlasten – damit wieder mehr Kaufkraft und damit auch mehr Konsum entstehen kann.

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Über den Gesprächspartner

  • Marcel Fratzscher ist Ökonom und seit 2013 Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Zudem lehrt er als Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität in Berlin. Er forscht unter anderem zu Finanzmärkten, Konjunktur, Ungleichheit, sowie Arbeit und Beschäftigung. Fratzscher gilt als einer der prominentesten Ökonomen Deutschlands und äußert sich auch regelmäßig öffentlich zu aktuellen Debatten.


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