Russland und die Ukraine verhandeln wieder im Gasstreit. Für Deutschland ist das eine gute Nachricht. Denn die Bundesrepublik ist abhängig von russischem Gas, ein Lieferstopp hätte hierzulande verheerende Folgen.

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Für viele ist es eine Horror-Vorstellung: Der Winter steht vor der Tür, draußen sinkt die Temperatur unter null Grad, die ersten Schneeflocken fallen. Doch drinnen springt die Heizung nicht an. Kein Gas mehr – in ganz Deutschland.

Damit es nicht so weit kommt, verhandeln die Ukraine und Russland heute erneut in Brüssel, um ihren Streit über Gaslieferungen beizulegen. Der Energiekommissar der Europäischen Union (EU), Günther Oettinger, vermittelt dabei zwischen dem ukrainischen Energieminister Juri Prodan und seinem russischen Kollegen Alexander Nowak. Russland besteht darauf, dass die Ukraine erst alte Schulden begleichen müsse, bevor sie neues Gas für November und Dezember erhalten könne.

Dass Oettinger mit am Tisch sitzt, ist nur logisch: Die EU bezieht etwa ein Viertel ihres Gases aus Russland. Und die Ukraine ist ein wichtiges Transitland auf dem Weg nach Europa. Etwa die Hälfte aller deutschen Gasimporte aus Russland fließt durch das Land. Dreht Moskau den Gashahn zu, kann das massive Folgen auch für deutsche Bürger haben. Doch wie groß ist das Risiko wirklich, droht Deutschland ein eisiger Winter?

Analyse der Regierung: Deutschland abhängig von Russland

Wenn deutsche und europäische Politiker nach möglichen Problemen bei der Gasversorgung gefragt werden, beschwichtigen sie gerne. Europa sei "winterfest" heißt es dann. Erst vor zwei Wochen hatte Oettinger die Ergebnisse eines Stresstests vorgestellt und versichert: Selbst wenn Russland für ein halbes Jahr kein Gas mehr liefere, "müsste kein EU-Bürger frieren". Nur keine Panik verbreiten, so die Losung.

Dabei zeigt eine interne Analyse der Bundesregierung, die unlängst an die Öffentlichkeit gelangte, wie abhängig Deutschland von russischem Gas ist. Untersucht wurde darin der Fall, dass Russland von September 2014 bis Februar 2015 überhaupt kein Gas mehr liefern würde. Die erschreckende Folge: Deutschland würde fast die Hälfte seines Gases fehlen. Insgesamt 23 Milliarden Kubikmeter müssten in den sechs Monaten kompensiert werden.

Notfallplan trifft vor allem Industrie hart

Nicht weniger beunruhigend ist der Mangel an Alternativen. Flüssiggas per Tanker oder zusätzliche Importe aus Norwegen – all das würde nur ein paar Millionen Kubikmeter mehr bringen und längst nicht ausreichen, um den deutschen Verbrauch von 51,2 Milliarden für diesen Zeitraum zu stillen. Im schlimmsten Fall müsste Deutschland den Energienotfall ausrufen.

Der Notfallplan der Bundesnetzagentur sieht dafür vor, dass zunächst sogenannte "geschützte Kunden" – also vor allem Privathaushalte – und dann die Industrie beliefert werden. Allerdings verbrauchen die Haushalte allein bereits so viel, dass rechnerisch fast nichts mehr für die Wirtschaft übrig bliebe. Der Schaden für viele Betriebe wäre beträchtlich.

Hinzu kommt, dass manche Faktoren unberechenbar sind. Das Wirtschaftsforschungsinstitut Bruegel aus Brüssel schätzt, dass schon 1,5 Grad kühlere Temperaturen in Häusern und Wohnungen der EU-Staaten die Gasimporte um rund 20 Milliarden Kubikmeter senken könnten. Im Umkehrschluss heißt das jedoch auch: Ist der Winter besonders frostig, müssen die Menschen mehr heizen und der Gasbedarf steigt drastisch.

Pipelinenetz der EU ist zu schwach

Doch selbst wenn genug Ersatz für alle Staaten vorhanden wäre, würde eine Umverteilung schnell die europäischen Pipelines überlasten, warnt das Energiewirtschaftliche Institut der Universität zu Köln (EWI) in einer Analyse für Spiegel Online. Auch deshalb blicken viele in der EU mit Zuversicht auf neue Projekte wie den "Southern Gas Corridor". Bis 2019 sollen mehrere Pipelines mit einer Länge von 3500 Kilometern insgesamt sieben Länder zwischen Aserbaidschan und Italien verbinden und diese weniger abhängig von Russland machen.

Dass die Angst vor dem russischen Griff zum Gashahn nicht unbegründet ist, zeigt ein Blick in die Vergangenheit: Im Januar 2009 bekam Europa schon einmal kein Gas mehr aus dem Osten, Österreich etwa fehlten plötzlich 90 Prozent seiner Importe. Die Ukraine und Russland beschuldigten sich damals gegenseitig, die Pipelines zu blockieren. Erst nachdem die EU vermittelt hatte, floss wieder Gas durch die Leitungen.

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