Heute vor 60 Jahren wurde NS-Organisator Adolf Eichmann in Argentinien gefasst. Noch immer suchen auf der ganzen Welt Ermittler nach ehemaligen NS-Schergen. Allerdings ist fraglich, wie lange die Fälle noch vor Gericht verhandelt werden können.
Er war einer der grausamsten Schergen des NS-Systems: Adolf Eichmann - SS-Obersturmbannführer, Leiter des "Eichmannreferats", ein Technokrat des Todes.
Vor 60 Jahren, am 11. Mai 1960, schnappten Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad den Mann, der als "großer Spediteur des Todes" maßgeblich an der Koordination und logistischen Umsetzung der Deportationen der europäischen Juden verantwortlich war.
Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Eichmann im Exil in Argentinien verbracht. Sein Leben endete am 15. Dezember 1961 am Strang. Es war zugleich das erste und bislang letzte Mal, dass ein israelisches Gericht einen Menschen zum Tode verurteilte.
Dass sich Eichmann vor Gericht verantworten musste, daran war maßgeblich Simon Wiesenthal beteiligt, der erste "Nazi-Jäger" der Geschichte - auch wenn er selbst diesen Namen ablehnte.
Wiesenthal, ein jüdischer Architekt, hatte im Holocaust 89 Angehörige verloren und mehrere Konzentrationslager überlebt. Sein Leben nach dem Holocaust widmete er der Suche nach ehemaligen NS-Schergen.
Rund 1100 will er rund um den Globus aufgespürt und der Justiz zugeführt haben, einige davon erregten großes Aufsehen: Etwa die Enttarnung des Wiener Polizisten Karl Silberhauer (1963), der die 14-jährige
Wiesenthal war kein Geheimdienstler, er hatte nicht mehr Befugnisse als jeder normale Bürger zu seiner Zeit. Seine Waffe waren Akten, in denen nüchtern die Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges beschrieben standen. 6.000 von ihnen und ein Verzeichnis mit rund 90.000 Namen, die sich in Wiesenthals Dokumentationszentrum in der Wiener Innenstadt stapelten, waren das Fundament seiner Arbeit.
Im Zweiten Weltkrieg hatte das Gebäude als österreichisches Gestapo-Hauptquartier gedient. 2005 starb Wiesenthal in Wien.
Die deutschen Nazi-Jäger forschen in Ludwigsburg
Wiesenthal war vielleicht der bekannteste Nazi-Jäger, aber nicht der einzige. In Deutschland ermittelt die "Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" im baden-württembergischen Ludwigsburg NS-Täter. Fast immer, wenn die Fälle mutmaßlicher Schergen vor deutschen Gerichten verhandelt wurden, hatte die Behörde Vorarbeit geleistet.
Zu Spitzenzeiten waren 121 Menschen in den Räumlichkeiten des ehemaligen Frauengefängnisses beschäftigt, heute sind es noch rund 20. Geleitet wurde sie bis Anfang des Jahres von Oberstaatsanwalt Jens Rommel.
Ohne den "Ulmer Einsatzgruppen-Prozess", einem der ersten spektakulären Prozesse gegen mutmaßliche NS-Verbrecher, gäbe es die Behörde womöglich nicht.
Zehn Mitgliedern des "Einsatzkommandos Tilsit" wurde 1958 für die Ermordung von mehr als 5.000 jüdischen Kindern, Frauen und Männern an der deutsch-litauischen Grenze der Prozess gemacht. "In Ulm steht eine ganze Epoche vor Gericht", titelte seinerzeit die "Stuttgarter Zeitung".
Fast noch wichtiger als die Verurteilung selbst war die Erkenntnis, dass ein Großteil der Massenverbrechen nicht aufgeklärt, nicht geahndet, ja, noch nicht einmal untersucht worden war.
Unter dem Druck, dass viele Kriegsverbrecher frei herumliefen, nahm die Ludwigsburger Behörde wenige Monate später ihre Arbeit auf. Dabei stieß sie aber auch oft auf Widerstände: Die Ermittler galten als Nestbeschmutzer der jungen Republik, die mühsam ihren Weg aus dem Zweiten Weltkrieg zu finden versuchte, während in den Gerichten, Parteien und Behörden noch immer ehemalige NS-Funktionäre saßen.
Ihren Höhepunkt fand die Behörde in den 60er und 70er Jahren, in denen sie unter anderem an den drei Auschwitz-Prozessen beteiligt war und insgesamt fast 7.200 Vorermittlungsverfahren an die Staatsanwaltschaften weiterleitete.
Akten vergessen nicht
Nazi-Jäger arbeiten ähnlich wie Historiker, ihr Werkzeug sind historische Dokumente. Die "Zentrale Stabsstelle" ist dabei eine in der Bundesrepublik beispiellose Einrichtung. Sie sucht nach Verdächtigen unabhängig von Tatorten, oftmals in Zusammenarbeit mit den KZ-Gedenkstätten.
Die Ludwigsburger durchforsten Archive auf der ganzen Welt, werten Akten aus, recherchieren. Hinweise finden sich zum Beispiel in Versetzungslisten, Uniformkarteien und Auszeichnungen. Mit zunehmendem Abstand zum Zweiten Weltkrieg kommen immer wieder neue Dokumente hinzu.
So gab die UNO 1987 rund 30.000 Namen frei, die in Zusammenhang mit den NS-Verbrechen standen. Nach dem Fall der Mauer waren die Stasi-Akten offen und der Zusammenbruch der Sowjetunion öffnete den Zugang zu Archiven der ehemaligen Ostrepubliken und GUS-Staaten. Die Zentralkartei umfasst heute mehr als 1,7 Millionen Karteikarten zu Personen und Tatorten.
Auch im Ausland gibt es Stellen, die an die Ludwigsburger Behörde angelehnt sind: die Human Rights and Special Prosecutions Section (HRSP) - vormals Office for Special Investigations (OSI) - beim Justizministerium der USA etwa, oder die Hauptkommission zur Verfolgung der Verbrechen gegen das polnische Volk.
Anklagen dürfen die Ludwigsburger aber nicht - sie müssen ihre Erkenntnisse an die Staatsanwaltschaften weiterleiten. Einer der Webfehler der Behörde, wie Kritiker meinen, weil den Staatsanwälten das Fachwissen fehlt und ein NS-Prozess oftmals komplexer ist als ein üblicher Mordfall.
Ludwigsburgern gelingt Demjanjuk-Coup
Vor einigen Jahren gelang den Ludwigsburgern ein wahrhaftiger Coup. Der Ermittler Thomas Walter überreichte der Münchner Staatsanwaltschaft nach jahrelangen Recherchen seine Erkenntnisse über den ehemaligen KZ-Wachmann John Demjanjuk.
Eine Verurteilung schien bis dato aussichtslos, weil nach gängiger Rechtsprechung potenziellen NS-Tätern konkrete Taten nachgewiesen werden mussten - was oftmals unmöglich war. Im Jahr 2011 aber war erstmals auf Basis von Walters Ermittlungen ein Gericht bereit, einen NS-Täter zu verurteilen, der als "Teil der Vernichtungsmaschinerie" Beihilfe zum Mord an 28.060 Menschen geleistet hatte.
Wird die Ludwigsburger Behörde noch gebraucht?
Dennoch steht die Behörde unter großem Rechtfertigungsdruck. Immer wieder gibt es Zweifel daran, welche Früchte die intensive Arbeit der Ludwigsburger 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch trägt.
2014 musste sich der damalige Behördenleiter Kurt Schrimm die Frage gefallen lassen, wieso 20 Reisen in südamerikanische Städte, in die sich NS-Verbrecher abgesetzt haben sollen, in keinem einzigen Ermittlungsverfahren mündeten. Es war von "Lustreisen" die Rede, sie seien Geldverschwendung.
Kritiker urteilten zudem, dass die Verurteilung von NS-Schergen, die oftmals am unteren Ende der NS-Hierarchie standen, heute mehr Symbolik wäre, denn ernsthafte Aufarbeitung.
Mord verjährt in Deutschland nicht, die Staatsanwaltschaften könnten mögliche NS-Verbrecher unbegrenzt anklagen - theoretisch. Doch wenige Verdächtige sind heute noch im verhandlungsfähigen Alter, die meisten schon tot.
Klar ist: Die Zahl der Ermittlungen hat ein Ablaufdatum, viele Fälle können nicht mehr verfolgt werden. In den vergangenen Jahren wurden noch 30 Ermittlungen pro Jahr angestoßen, heißt es aus der Behörde. 2018 waren es nur noch 14, im vergangenen Jahr immerhin drei mehr. Ob diese jemals vor einem Gericht verhandelt werden, ist ungewiss.
Verwendete Quellen:
- Stuttgarter-Zeitung.de: Interview mit Jens Rommel
- Deutsches Historisches Museum: Biografie von Adolf Eichmann
- Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen
- Jochen von Lang: Das Eichmann-Protokoll: Tonbandaufzeichnungen der israelischen Verhöre
- Süddeutsche Magazin: Der Eichmann-Prozess
Anmerkung: In einer früheren Version des Artikels hieß es, der "Ulmer Einsatzgruppen-Prozess" habe 1985 stattgefunden. Richtig ist 1958. Wir haben den Fehler korrigiert.
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