Andere Menschen sterben sehen: Was früher einmal zum Alltag gehörte, ist für die meisten heute eine Extremerfahrung. Der Tod? Ein Tabuthema. Wer aber nahezu täglich Menschen sterben sieht, kann das Thema nicht verdrängen. Wie sieht so jemand den Tod und welche falschen Vorstellungen vom Sterben haben wir?

Ein Interview

Seit Jahrzehnten begleitet Winfried Hardinghaus Menschen bis zu ihrem letzten Atemzug. Und damit auch Angehörige bei oft schwierigen Abschieden. Er ist Vorsitzender des Deutscher Hospiz- und PalliativVerbands (DHPV) und Chefarzt der Klinik für Palliativmedizin am Franziskus-Krankenhaus in Berlin. Hier spricht er über besondere und manchmal unerklärliche Erfahrungen.

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Herr Hardinghaus, dass der Tod zum Leben gehört, verdrängen viele gerne. Für Sie aber gehört er sogar zum Alltag. Beobachten Sie typische falsche Vorstellungen vom Sterben?

Prof. Dr. Hardinghaus berät in der Sterbehilfediskussion auch Politiker. © DHPV

Winfried Hardinghaus: Das hat sich schon gebessert in den letzten Jahren, aber Sterben und Tod sind nach wie vor Tabuthemen. Viele Menschen fürchten den Tod nicht, weil sie sich gar nicht erst mit ihm beschäftigen. Viele Menschen aber haben Angst – weil sie fürchten, allein und einsam zu sein beim Sterben. Andere haben Angst vor dem Tod, weil sie fürchten, zu ersticken oder starke Schmerzen zu haben.

"Niemand braucht Angst vor einem qualvollen Tod zu haben."

Palliativarzt Winfried Hardinghaus

Sind das begründete Ängste?

Eigentlich sind sie unbegründet. Ich spreche jetzt nicht von Sterbenden, die bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommen – das kann ich nicht beurteilen. Aber was Palliativ- und Hospizpatienten betrifft, Menschen, die chronische Leiden haben: Wir haben hierzulande ein so gutes Netz an ambulanter und auch stationärer Palliativ- und Hospizversorgung, dass niemand mehr vor einem "qualvollen Tod" – dieser Ausdruck kursiert ja – Angst haben muss. Ich kann jeden von seinen Schmerzen befreien am Ende seines Lebens. Man kann Luftnot fast komplett lindern mit modernen Medikamenten, genauso wie etwa Übelkeit und Erbrechen.

In der Palliativmedizin ist ein ganzheitliches Konzept wichtig, das Seele und Körper und die familiäre und soziale Situation mitbedenkt. Wenn man all das umfasst, braucht niemand mehr vor einem qualvollen Tod Angst zu haben.

Muss man dafür im Hospiz sein oder kann man gute Bedingungen auch zu Hause gut schaffen?

Man kann sie auch zu Hause schaffen. Hausärzte leisten hier gute Dienste. Es gibt seit einigen Jahren außerdem zusammen mit der Pflege die sogenannte spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV). Sie ist eine sehr segensreiche Hilfe, wenn Menschen zu Hause bleiben möchten. Die gute ambulante und stationäre Versorgung schwerstkranker und sterbender Menschen zu fördern, gehört zu meinen Aufgaben als Vorsitzender des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbands.

Kurz erklärt:

  • Palliativmedizin meint die Versorgung von schwerstkranken Menschen und Sterbenden. Ziel der ganzheitlichen Behandlung ist, das Leiden zu lindern, wenn keine Aussicht auf Heilung mehr besteht. Sie kann zu Hause, im Krankenhaus, im Pflegeheim oder im Hospiz erfolgen.
  • SAPV: Krankenkassen übernehmen seit 2007 die spezialisierte ambulante Palliativversorgung, wenn der Hausarzt sie verordnet. Speziell ausgerichtete Teams – meist Arzt und Pflegekräfte – kommen bis zu zweimal am Tag zur Versorgung. Die SAPV soll dabei helfen, schwerkranken Menschen ein menschenwürdiges Leben bis zum Tod in ihrer vertrauten häuslichen Umgebung und bei ihren Angehörigen zu ermöglichen.

"Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir nicht verstehen. Ich beobachte vieles, das eigentlich merkwürdig ist."

Winfried Hardinghaus

Unabhängig von Religion: Sterbende suchen Halt im Spirituellen

Sie sprachen von der verbreiteten Angst, allein zu sterben. Angehörige tun deshalb oft alles, um den Sterbenden nicht allein zu lassen. Und dann – solche Geschichten hört man immer wieder – verstirbt er genau in den Minuten, als niemand bei ihm war. Fällt manchen das Loslassen dann womöglich leichter?

Das gibt es tatsächlich immer wieder. Und es passiert auch bei Patienten mit sehr enger Bindung zur Familie. Das hatten wir gerade neulich wieder: Die Ehefrau war immer da, auch über Nacht, und dann einmal nur für eine Viertelstunde weg für eine Besorgung. Genau in dem Moment verstarb ihr Mann. Natürlich kann man das nicht verallgemeinern. Die meisten sterben lieber nicht allein. Aber das geschilderte Phänomen beobachten wir definitiv.

Für Angehörige ist es dann vielleicht ein Trost, wenn sie in dem Moment nicht da waren?

Ja. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir nicht verstehen. Ich beobachte vieles, das eigentlich merkwürdig ist. Und es ist immer individuell. Jeder Mensch ist anders, jeder stirbt anders, jeder will auch anders sterben.

Gibt es etwas, das Sie immer wieder beobachten, etwas, in dem wir uns doch alle ähnlich sind?

Ja, es wird ein Halt gesucht. Und zwar oft auch in einem Leben danach und im Spirituellen. Das müssen nicht der christliche oder der muslimische Glaube sein, aber ein Glaube. Das sehen wir auch bei Menschen, die zu uns kommen und mit Religion gar nichts am Hut hatten.

Was beobachten Sie noch?

Manche sterben ganz ruhig, vor allem, wenn sie hochbetagt sind. Dann gibt es andere, vornehmlich jüngere, die – auch wenn sie keine Schmerzen haben – eine Art Todeskampf führen.

Und dann – das trifft fast immer zu: Menschen sterben so, wie sie gelebt haben. Plakativ gesagt: Menschen, die im Leben schon mit sich stimmig waren, können auch meistens gut gehen. Menschen, die im Leben mit sich gehadert haben, tun sich schwerer. Wie gesagt: Das stimmt nicht immer, aber sehr häufig.

Häufige Frage von Angehörigen: Wie soll ich mich verhalten?

Was hätte ich anders machen sollen in meinem Leben: Ist das ein häufiges Thema auf dem Sterbebett?

Manche wünschen sich noch Gespräche mit Angehörigen, mit denen sie sich aussöhnen wollen oder möchten noch etwas regeln wie das Testament. Viele sind erleichtert, denn sie wissen ja doch, dass es auf den Tod hinausläuft und wollen dann auch, dass es vorbeigeht. Aber es gibt auch einige, die das nicht können.

Ich habe gerade eine Patientin, die eigentlich nicht mehr kann. Sie lässt nicht los, sie kämpft immer weiter, sie will noch leben. Das muss man ihr dann auch lassen. Jeder hat seine eigene Bewältigungsstrategie. Manchmal kommt das Loslassen von allein. Manche sterben aber auch mit dem Gefühl, noch leben zu wollen.

Was erleben Sie mit Angehörigen?

Sie zu begleiten, nimmt mindestens die gleiche Zeit ein wie die Begleitung der Kranken selbst. Die häufigsten Fragen: Wie soll ich mich jetzt verhalten? Soll ich mit ihm reden? Soll ich ihn in Ruhe lassen?

Wichtig ist, nicht anders zu werden am Ende des Lebens eines Angehörigen. Lassen Sie Ihr Gefühl sprechen. Da sein, zuhören, Wärme spenden, Liebe geben, die Hand nehmen, die Stimme erklingen lassen, beruhigend auf ihn einwirken. Hilfe anbieten und Kontakt mit den Ärzten, Schwestern, Pflegepersonal, Seelsorgern halten. Keine belastenden Themen wälzen, wohl aber Gelegenheit geben, wenn der Betroffene noch etwas äußern oder erledigen will.

Es ist ja eine traurige Situation und man will die Kontrolle nicht verlieren – ist das sehr schwer für die Angehörigen?

Es ist sehr unterschiedlich. Die einen wünschen sich, den Patienten noch einmal mit nach Hause zu nehmen, manchmal sogar in Heimatländer zu überführen, andere wollen, dass wir alle Maßnahmen aufrechterhalten, auch wenn es eigentlich keinen Sinn mehr macht. Das bringt uns in schwierige Situationen, weil eben der Patient für uns im Vordergrund steht.

Einige sind überfordert und völlig erschöpft und dankbar, dass der Sterbende bei uns ist. Weil es so schwer sein kann, gibt es professionelle Hilfe für Angehörige – Gespräche mit Psychologen und auch dem Sozialdienst, der bei formellen Dingen unterstützt. Zu dem so gut funktionierenden Netz tragen auch viele Ehrenamtliche bei.

Traurigkeit und Szenen, die man nicht vergisst

Verändert es etwas in einem, wenn man mal ein Sterben miterlebt hat?

Natürlich macht das was mit einem. Ich bin Palliativmediziner seit Anfang der 90er-Jahre und habe so viele Menschen begleitet, das kann ich gar nicht mehr genau sagen. Besonders erinnert es einen an die eigene Endlichkeit. Dabei kommt auch Dankbarkeit auf.

Sterbebegleitung muss einem viel Kraft abverlangen ...

Man entwickelt natürlich eine gewisse Routine. Aber man darf auch traurig sein. Wenn da eine 18 Jahre junge Mutter stirbt, ihr Säugling mit in ihrem Bett – das sind Dinge, die man nicht abschütteln kann – und das soll man auch gar nicht.

Was war der Mutter denn geschehen?

Das war schicksalhaft. Die Mutter hatte in der Schwangerschaft schon Kopfschmerzen und wurde nach der Geburt untersucht. Man stellte einen Gehirntumor fest. Der Ehemann war dabei, als sie starb, es waren dramatische Szenen.

Glauben Sie, aufgrund Ihrer Erfahrungen weniger Angst vor dem Tod zu haben als andere Menschen?

Das würde man vielleicht meinen, aber man kann absolut nicht voraussagen, wie man selbst reagieren wird. Ich habe schon die seltsamsten Reaktionen von erfahrenen Kolleginnen und Kollegen erlebt, die ich so nicht erwartet hätte. Vielleicht werde ich aggressiv und ärgerlich, vielleicht werde ich gut gehen können. Man kann da nicht für sich die Hand ins Feuer legen.

Was ich aber nicht hoffe: eines Tages tot umzufallen mit Herzinfarkt, wie viele es sich wünschen. Ich würde gerne in Ruhe und Frieden von Familie und Freunden Abschied nehmen können und umsorgt sein. Das ist mein persönlicher Wunsch.

Über den Gesprächspartner:

  • Prof. Dr. Winfried Hardinghaus ist Facharzt für Innere Medizin und seit Beginn der 1990er-Jahre Palliativmediziner. Er leitet als Chefarzt die Klinik für Palliativmedizin am Franziskus-Krankenhaus Berlin und ist Vorsitzender des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbands ( DHPV ) e.V. Hardinghaus wurde vielfach geehrt, seit 2016 ist er Träger des Verdienstkreuzes erster Klasse.

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