Vor Facebook war StudiVZ: Eine neue Dokumentation erzählt, wie ein deutsches Start-up zum größten sozialen Netzwerk des Landes wurde und in Skandalen versank.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Felix Reek dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

2006 fragen sich Studenten in ganz Deutschland: Was ist eigentlich Gruscheln? Es sind die Anfänge des Internets als Massenphänomen, die ersten sozialen Netzwerke tauchen auf. MySpace hat vor allem Musikfans zusammengebracht, Facebook steigt gerade auf, ist aber auf den englischsprachigen Markt begrenzt. Ehssan Dariani lernt das Netzwerk bei einem Trip in die Vereinigten Staaten kennen und ist von der Idee begeistert. 2005 kopiert er eins zu eins die Startseite, färbt sie rot ein und nennt sie "StudiVZ". Der einzige Unterschied ist das sogenannte "Gruscheln", ein Kunstwort für eine Funktion, bei der die Nutzer mit einem anderen Profil Kontakt aufnehmen können.

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Das Netzwerk ist ein Riesenerfolg. Es folgen Ableger wie "SchülerVZ" und "MeinVZ", zu Hochzeiten sind bis zu 17 Millionen Menschen angemeldet. Das ist die Hälfte der Internetnutzer in Deutschland zu dieser Zeit. Internationale Konzerne wie Facebook und Yahoo haben Interesse, doch so schnell wie die VZ-Gruppe zum Trend wurde, ist sie wieder verschwunden. Zumindest aus dem öffentlichen Bewusstsein. Eigentlich existieren "StudiVZ" und seine Schwesterportale noch bis 2022, bevor die Netzwerke endgültig geschlossen werden.

"Überdurchschnittlich intelligent, sozial nicht einfach"

In seinem Film "Gruschel mich! Die StudiVZ-Story", der ab dem 5. Februar in der Mediathek der ARD zu sehen ist und am 19. Februar im NDR ausgestrahlt wird, versucht der Autor Fritz Lüders, genau diese Geschichte zu erzählen. Er hat dazu mit Weggefährten des StudiVZ-Gründers gesprochen, mit Datenschützern und Kritikern. Mit Menschen, für die es die beste Zeit in ihrem Leben war, und anderen, die darunter litten. Aber eigentlich ist es vor allem die Story von Ehssan Dariani, der seit langer Zeit zum ersten Mal wieder über das Netzwerk in der Öffentlichkeit spricht und Einblicke in bisher ungesehenes Archivmaterial gewährt.

Dariani wurde 1980 in Teheran geboren und flieht mit seinen Eltern zu Beginn des ersten Golfkrieges 1986 nach Deutschland. Der Vater verlässt die Familie schnell, Dariani wächst ohne ihn auf. In der Dokumentation ist das für ihn einer der Gründe, warum er einen überproportionalen Drang entwickelt, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er ist begabt, leidet aber auch an psychischen Problemen, wird wegen ADHS und Depressionen behandelt. Ein Weggefährte beschreibt ihn in dem Film als "überdurchschnittlich intelligent, sozial nicht einfach". In der Dokumentation ist das nicht zu übersehen. Dariani wirkt nervös, fahrig, ist selten zu bremsen.

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Der Gründer sitzt bei Harald Schmidt

Er sitzt in einem Kino und schaut sich die alten Aufnahmen von damals an. Es sind die Nullerjahre, alle sind im Internet und Dariani und sein technischer Kopf hinter StudiVZ, Dennis Bemmann, programmieren Tag und Nacht. Als das Netzwerk 2005 endlich online ist, ziehen Sie von Studentenparty zu Studentenparty, sprechen Leute an, rufen so lange Bekannte an, dass sie sich anmelden sollen, bis sie damit drohen, ihnen die Freundschaft zu kündigen. Dariani ist der Star des Unternehmens. Er sitzt bei Harald Schmidt in der Late Night Show, gibt Interviews, StudiVZ ist eine echte deutsche Erfolgsgeschichte. Sogar Mark Zuckerberg ist so beeindruckt, dass er Dariani in die USA einlädt, weil er das Netzwerk gegen Firmenanteile kaufen will. Die wären heute einen zweistelligen Milliardenbetrag wert.

Doch mit dem Erfolg kommt die Kritik. Eines der besonderen Features von StudiVZ sind die Gruppen, die jeder erstellen kann, bis zu 500.000 sind es. Sie sind kaum zu regulieren, erst recht nicht von einem chaotischen Haufen wie den Machern des Netzwerks. "Es war Rock 'n' Roll", sagt einer von ihnen in der Dokumentation und meint damit: Wirkliche Strukturen gab es nicht. Datenschutz erst recht nicht, und 2007 glauben Menschen tatsächlich noch, sie müssten ihr echtes Leben im Internet abbilden. Also gibt es in diesen Gruppen Bilder von sich übergebenden Menschen, Sammelposts freizügiger Frauen, alles ohne deren Zustimmung. Dazu kommen Sexismus, Belästigung und Rechtsradikalismus. Dariani macht munter mit, interviewt angetrunkene Frauen auf Toiletten und lädt ihre Videos nachher ohne Zustimmung hoch.

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Immer noch nicht seinen Platz im Leben gefunden

Im selben Jahr ist für ihn alles wieder vorbei. Mark Zuckerberg versucht ein zweites Mal die Übernahme, den Zuschlag bekommt der Holtzbrinck Verlag für 85 Millionen Euro, mit Ende 20 hat Dariani ausgesorgt. Und fliegt wegen seines schwierigen Verhaltens wenige Monate später aus seinem eigenen Unternehmen. Das lässt ihn bis heute nicht los. Schon 2010 sagte er in einem Interview der Süddeutschen Zeitung, dass es für ihn nicht einfach wäre, eine neue Aufgabe zu finden, weil nichts für ihn einen Sinn ergeben würde, das nicht mindestens genauso groß sei wie StudiVZ.

Das ist das wirklich Traurige an diesem Film: 20 Jahre später hat sich daran nichts geändert. Die Kamera begleitet Dariani zu seinen Therapeuten, mit denen er über das Ende seines Netzwerks spricht. Er habe immer noch nicht seinen Platz in dieser Gesellschaft gefunden, sagt er. Warum er denn ursprünglich mal StudiVZ gegründet habe, fragt ihn eine der Psychologinnen. Dariani wird ruhig und sagt, er wollte einfach Freunde finden. Hoffen wir, dass ihm zumindest das mittlerweile gelungen ist.

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