Der Anschlag am Istanbuler Flughafen Atatürk hat eine Politik-Debatte entfacht. In der EU-Kommission gibt es Überlegungen, vom harten Kurs bei den Verhandlungen über die Visafreiheit für die Türkei abzuweichen. Doch das könnte wegen des daran gekoppelten türkischen Anti-Terror-Gesetzes schwerwiegende Folgen haben.

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Die EU steht kurz nach dem Brexit vor einer weiteren schwierigen Debatte. Im Streit um die Visafreiheit forderte sie bislang von der türkischen Regierung, die dafür vorgegebenen 72 Bedingungen zu erfüllen.

Eine davon ist die Änderung des türkischen Anti-Terror-Gesetzes. Doch Ankara hat das bis heute verweigert. Angesichts des erneuten Anschlags in der Türkei steckt die Europäische Union nun in der Zwickmühle.


"Bisher vertrat die EU den Standpunkt, dass alle 72 Bedingungen erfüllt werden müssen. Jede Abweichung hiervon würde als 'Erpressung mit Flüchtlingen' betrachtet werden", erklärt Prof. Thomas Jäger, Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität Köln, in einem Gespräch mit unserer Redaktion.

Genau das habe der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan thematisiert, als er drohte, das Flüchtlingsabkommen auf den Prüfstand zu stellen, sollte die Visafreiheit verweigert werden.

Wie hängt die Visafreiheit mit dem Flüchtlingsabkommen zusammen?

Die Türkei hat sich folgenden Deal vorgestellt: Sie verhindert die Migration nach Griechenland, dafür bekommt die türkische Bevölkerung die Visafreiheit. Gleichzeitig will Ankara aber an den bestehenden Anti-Terror-Gesetzen festhalten. Das Flüchtlingsabkommen ist also ein Druckmittel der Türkei, zu ihren Bedingungen mit der EU zu kooperieren.

Allerdings steht das türkische Anti-Terror-Gesetz in einem grundsätzlichen Gegensatz zu den Demokratieprinzipien der EU. "Angesichts der autoritären Tendenzen in der Türkei wird es jedenfalls nicht möglich sein, die bestehenden Gesetze als vereinbar mit einer demokratischen Entwicklung zu betrachten", sagt Jäger.

Warum ist das türkische Anti-Terror-Gesetz so problematisch?

Der Grund ist Erdogans Umgang mit dem Gesetz. Denn es lässt viel Raum für Interpretation und Machtsicherung. "Insbesondere geht es um die Frage, wer als 'Terrorist' angeklagt werden kann. Der Begriff wird in diesem Gesetz derart weit ausgelegt, dass auf diesem Weg auch kritische Journalisten und Oppositionspolitiker belangt und angeklagt werden können", erklärt Jäger.

Das sei für die EU-Mitgliedsstaaten inakzeptabel. Aus diesem Grund habe auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei ihrem jüngsten Türkei-Besuch darauf hingewiesen, mit einer raschen Einigung sei in dieser Frage nicht zu rechnen.


Wie nutzt Erdogan das Anti-Terror-Gesetz für seine Zwecke?

"Journalisten werden angeklagt, weil investigative Reportagen als der Verrat von Staatsgeheimnissen gewertet werden", erklärt der Politologe. Außerdem werden Oppositionspolitiker angeklagt, terroristische Vereinigungen zu unterstützen. So geschehen im Mai, als Erdogan per Verfassungsänderung die Immunität einiger Parlamentarier aufheben ließ, damit sie strafrechtlich verfolgt werden können.

Der türkische Präsident entfernte vor allem Abgeordnete der pro-kurdischen HDP aus dem Parlament. Er wirft ihnen vor, sie seien der verlängerte Arm der PKK. Für die Mitglieder der HDP gleicht dieser Vorgang nach eigener Aussage einem totalitären Angriff auf den Rechtsstaat.

Erdogan nutzt das Anti-Terror-Gesetz also für seinen Weg zu einem Präsidialsystem. Das bedeutet: Der türkische Präsident verlagert die Macht im Land auf sich selbst und bastelt damit an einer Alleinherrschaft: "Jede Kritik an der Regierung, sowohl aus dem politischen als auch dem öffentlichen Raum, soll unterbunden werden.

Die AKP [türkische Regierungspartei, Anm.d.Red.] strebt an, das gesamte gesellschaftliche Leben mit ihren Funktionären zu besetzen und die Herrschaft der Partei so in der Gesellschaft zu verankern, dass sie auf Dauer die Mehrheitspartei ist", sagt Jäger.

Was könnte passieren, wenn die EU Zugeständnisse macht?

Würde die Europäische Union den Bedingungen Erdogans nachgeben, könnte es zu folgendem Szenario kommen: "Die türkische Regierung könnte dann sagen: 'Jetzt sind wir noch näher an die EU herangerückt, sie akzeptieren uns, wie wir sind'", erklärt Jäger.

Die Regierung in Ankara würde dies als Unterstützung ihrer Politik verkaufen. Somit hätten die EU-Mitgliedsstaaten kein Mittel mehr, aus diesem Interesse heraus auf die Demokratisierung in der Türkei hinzuwirken.

Die Zwickmühle: Laut Jäger könne es sich die EU derzeit nicht leisten, den Eindruck zu erwecken, sie sei vor Erdogan eingeknickt. Ebenso wenig könne sie sich jedoch angesichts der Zerrissenheit in Fragen der Migrationspolitik leisten, erneut mit einer Vielzahl von Flüchtlingen konfrontiert zu werden.

"Es kann also sein, dass die EU-Mitgliedsstaaten vor die Wahl gestellt werden, Flüchtlinge aufzunehmen oder ihren Prinzipien treu zu bleiben", schätzt der Politologe die Lage ein.

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