Die Umgestaltung von Straßen und Quartieren für mehr Bus-, Rad- und Fußverkehr führt in Deutschland oft zu Protesten. Dabei geht es auch anders.
In Brüssel gilt in der Innenstadt fast überall Tempo 30, Gent hat den Durchgangsverkehr aus dem Zentrum verbannt und in Paris werden Fahrspuren zu breiten Radwegen umgebaut: Weltweit organisieren Städte den Verkehr in ihren Zentren neu und verteilen die Flächen etwas anders, auch in Deutschland. Doch sobald hier Kommunen den Platz zum Parken oder Fahren von Autos etwas einschränken, protestieren Anwohner und Gewerbetreibende lautstark oder klagen sogar vor Gericht.
Für den Mobilitätsforscher Andreas Knie, Professor für Sozialwissenschaften an der TU Berlin und dem Wissenschaftszentrum Berlin, sind diese Proteste jedoch kein rein deutsches Phänomen. "Auch im Ausland wird gemurrt, wenn an den Privilegien für den Privatwagen gekratzt wird", sagt er. Allerdings tue sich Deutschland beim Umbau der Straßen im europäischen Vergleich deutlich schwerer als seine Nachbarn. Das liege an der Bundesverkehrspolitik, aber auch an der Struktur der Städte.
"Der Druck, den Verkehr neu zu organisieren, ist in den kompakten belgischen oder französischen Städten deutlich höher als in vielen deutschen Städten", sagt Knie. In Hannover, Chemnitz oder Halle rolle der Autoverkehr auf breiten sechsspurigen Straßen weiterhin bequem durchs Zentrum. Anders in den historischen Städten von Antwerpen, London oder Paris. Dort schieben sich die Autos dicht gedrängt auf schmalen Fahrspuren durch die dicht bebauten Quartiere. "Die Enge, der Lärm und die Abgase belasten die Menschen", sagt er. Die Politik stehe unter Zugzwang, die Verkehrsprobleme zu lösen.
Gent: 40 Prozent weniger Autoverkehr
Auch im belgischen Gent sorgte der Autoverkehr Anfang der 2010er Jahre für Stau und schlechte Luft. 40 Prozent des Autoverkehrs in den Wohngebieten rund um die Altstadt war Durchgangsverkehr. Als Filip Watteeuw, stellvertretender Bürgermeister und Verkehrsminister, ankündigte, die Stadtteile rund um die Altstadt für den motorisierten Durchgangsverkehr zu sperren, war der Protest groß. Watteeuw bekam Morddrohungen und brauchte Polizeischutz.
Dennoch hielt die Stadtregierung an dem neuen Mobilitätsplan (Circulatieplan) fest. Der sah vor, dass Anwohner und Besucher zwar weiterhin mit ihren Wagen in jedes Quartier hineinfahren können, von dort aber nicht weiter in die angrenzenden Quartiere. Wer auf das Auto angewiesen war, sollte zukünftig einen Umweg über die Ringstraße nehmen, die alle Quartiere rund um die Altstadt miteinander verbindet.
Während die Verwaltung den Umbau vorbereitete, diskutierte Watteeuw die Pläne mit Vertretern der Wirtschaft, des Einzelhandels und der Anwohnerschaft. 2017 wurde der "Circulatieplan" umgesetzt und in den Folgejahren stetig verbessert. Der private Autoverkehr sank in der Zeit von 2012 bis 2019 im Zentrum von 55 auf 27 Prozent, stadtweit auf 39 Prozent.
Fehlerkultur für Verkehrsprojekte entwickeln
Dieses konsequente und strategische Vorgehen vermisst Torsten Perner in deutschen Kommunen. Der Verkehrsplaner und -stratege der globalen Ingenieur-, Architektur- und Managementberatung Ramboll berät Städte und Regierungen europaweit dabei, ihre Mobilität intelligent zu organisieren, eine Zeit lang auch in Dänemark.
"Dort gibt die Politik bei der Verkehrsplanung das Ziel vor und beteiligt die Bevölkerung an der Gestaltung", sagt er. Dabei gehe es stets um das "Wie" und nie um das "Ob". Wenn im Nachhinein etwas nicht funktioniere, werde in Absprache mit der Bevölkerung nachgebessert. In Deutschland sei das anders. "Hier wird bei Kritik schnell das gesamte Vorhaben hinterfragt und sogar beendet", sagt er.
Berlins Friedrichstraße: Freie Fahrt für Autos
So wie der Verkehrsversuch in der Berliner Friedrichstraße: Rund drei Jahre lang war dort ein 500 Meter langer Abschnitt für den Autoverkehr gesperrt. Ebenso lange protestierten eine Handvoll Politiker und Einzelhändler lautstark dagegen. Nach dem Regierungswechsel im Frühjahr 2023 beendete der neue Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) den Verkehrsversuch, machte sämtliche Änderungen rückgängig und setzte damit ein Wahlkampfversprechen um. "Berlin hat an dieser Stelle die Chance vertan, eine Fehlerkultur zu entwickeln, die ein Nachbessern ermöglicht", sagt Perner.
Während sich in Berlin der Umbau der Straße verzögert, setzen Städte wie Oslo, Paris oder Kopenhagen ihre Zukunftsvisionen bereits um. Dort haben sie allerdings auch Rückendeckung an der Wahlurne oder über Bürgerbeteiligungsverfahren. Oslo etwa will klimaneutral werden, Kopenhagen zur besten Fahrradstadt der Welt und Paris zur "15-Minuten-Stadt", in der die Bewohner alle alltäglichen Ziele zu Fuß oder mit dem Fahrrad in einer Viertelstunde erreichen können.
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Mehrwert schaffen, Aufenthaltsqualität verbessern
"Die Zustimmung in der Bevölkerung für den Wandel ist groß, die Menschen sind weiter, als die Politiker denken", sagt Dagmar Köhler, die als Strategin mit dem Planungsbüro Mobycon Kommunen in Europa bei ihrer Stadt- und Verkehrsplanung berät. Ausschlaggebend für den Erfolg sind aus ihrer Sicht ambitionierte Ziele der Regierungen. "Sie versprechen den Menschen einen echten Mehrwert wie mehr Aufenthaltsqualität und werden zeitnah umgesetzt", sagt sie.
Ehrgeizige Ziele motivierten außerdem die Ingenieure, innovativ zu denken und zu planen. Ein Beispiel dafür ist die bekannte, geschwungene Radbrücke "Cykelslangen" (Fahrradschlange). Mit ihr haben die Dänen Ende der 2000er Jahre eine Lücke im Radwegenetz elegant geschlossen. "In Dänemark oder den Niederlanden denken die Planer den Rad-, Fuß-, Bus- und Bahnverkehr stets in miteinander verzahnten Netzen", sagt Dagmar Köhler. Das sei entscheidend, meint die Strategin, damit die Menschen bequem ihre Ziele erreichen.
In Deutschland existieren solche zusammenhängenden Wegenetze in erster Linie für den Autoverkehr. Versuche, sie auch für den Rad- oder Busverkehr anzulegen, scheiterten oft an der Rechtslage. "Das Straßenverkehrsgesetz und die Straßenverkehrsordnung blockierten bis vor kurzem alles, was die Flüssigkeit des Autoverkehrs einschränkte", sagt Mobilitätsforscher Knie. Deshalb sei es für Kritiker leicht, gegen Verkehrsversuche zu klagen. Das hat sich nun geändert. Nachdem Bundestag und Bundesrat im Juni eine Reform des Straßenverkehrsrechts beschlossen haben, können Ingenieure nun auch die Gesundheit, den Klimaschutz oder städtebauliche Belange bei der Verkehrsplanung berücksichtigen. "Es ist ein erster Schritt. Ob die Novelle ausreicht, wird die Praxis zeigen", sagt Knie.
Leere Parkhäuser, zugeparkte Straßen
Denn bereits heute nutzen die Kommunen aus seiner Sicht nicht alle möglichen Stellschrauben, um dem Rad- oder Fußverkehr mehr Platz zu verschaffen. "Ein zentraler Schlüssel ist das Parken", sagt er. In Deutschland dürfen Privatwagen überall dort kostenlos abgestellt, wo es nicht ausdrücklich verboten ist. Das führe dazu, dass in den Zentren die Straßen zugeparkt sind, während die Parkhäuser zur Hälfte leer stehen.
Es gibt keine autofreien Städte
"Das Umparken der Autos von der Straße ins Parkhaus kann die Straßen freiräumen und Chancengleichheit bei der Verkehrsmittelwahl herstellen", sagt Knie. Solange der Wagen vor der Haustür parkt, sei es für Autobesitzer bequemer, ihn zu nutzen, anstatt 300 Meter zur nächsten Bushaltestelle zu laufen. Deshalb erheben viele europäische Städte mittlerweile hohe Parkgebühren für das Straßenparken. In Rotterdam kostet es mit rund sechs Euro pro Stunde doppelt so viel wie im Parkhaus. Außerdem werden dort und in Amsterdam Straßenparkplätze konsequent abgebaut.
Die frei gewordenen Flächen werden begrünt und für den Rad- oder Fußverkehr umgestaltet. "Davon profitieren viel mehr Menschen als zuvor von den Stellplätzen", sagt der Mobilitätsexperte Torsten Perner. Diesen Aspekt vermisst er in der Diskussion. Statt den Mehrwert aufzuzeigen, werde hierzulande stets der Verzicht betont. "Mit Begriffen wie 'autofreie' oder 'autoarme Städte' kreieren wir völlig falsche Bilder", sagt er. Bis auf wenige Städte wie Venedig sei keine Stadt autofrei. "Der Autoverkehr ist und wird auch weiterhin überall in der Stadt unterwegs sein", sagt er. Nur Teile einer Straße oder eines Quartiers würden umgestaltet. Das müsse deutlich werden.
Kommune muss Kritik aushalten
Aber manche Menschen tun sich selbst mit kleinen Einschränkungen in ihrem Alltag zunächst schwer, wie die Forschung von Julia Jarass zeigt. Die Wissenschaftlerin vom Institut für Verkehrsforschung beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Berlin hat drei Reallabore in Berlin begleitet, darunter die Umgestaltung einer Kreuzung in einen Stadtplatz.
Die Anwohner bezog ihr Team bereits im Vorfeld ein, gemeinsam begrünten sie den Platz und statteten ihn mit Sitzmöbeln aus. "Der neue Raum wurde rege genutzt; und es kamen Nachbarn in Kontakt, die nie zuvor miteinander geredet hatten", sagt Jarass. Vielen hat das gefallen.
Ihre Untersuchungen zeigen aber auch: Wer im Alltag hauptsächlich mit dem Auto unterwegs ist, lehnt die Umgestaltung seines Umfelds eher ab: "Autofahrer nehmen das neue Umfeld mit mehr Grün, weniger Lärm und neuen Treffpunkten bei ihren Fahrten durch die Stadt nicht wahr", erklärt die Wissenschaftlerin. Sie erlebten in erster Linie die Nachteile des Umbaus – etwa, dass sie Umwege fahren müssten oder am Ziel keinen Parkplatz fänden.
Kritisiert wurden Veränderungen des Straßenraums schon immer. In den 1970er Jahren sorgten Fußgängerzonen zunächst für Bedenken. "Heute will sie keiner mehr missen", so Jarass. Entscheidend für eine erfolgreiche Umgestaltung von Straßen und Wohnvierteln seien eindeutige Ziele und Beteiligungsverfahren, die auch die Kritiker einbezögen. "Der Blick nach Gent, Paris oder Kopenhagen zeigt, dass die Umverteilung der Flächen funktioniert", sagt sie. Die Kommunen bräuchten allerdings neben dem nötigen Geld und Personal auch Mut, Geduld und Durchhaltevermögen.
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Verwendete Quellen
- stad.gent: Cycling Policy
- stad.gent: Circulatieplan Gent
- stad.gent: Mobility policy Ghent
- agora-verkehrswende.de: Umparken – den öffentlichen Raum gerechter verteilen
- rotterdam.nl: Betaald parkeren
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