• Menschen kehren nur zögerlich in die Region rund um den havarierten Atomreaktor in Japan zurück.
  • Die Strahlenbelastung ist nach dem Fukushima-Unglück laut Greenpeace in manchen Landstrichen immer noch hoch.
  • Die Regierung hat bisher nicht öffentlich gemacht, was mit mehr als einer Million Kubikmeter kontaminiertem Wasser geschehen soll.

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Das Seniorenheim ist Kathrin Erdmann besonders in Erinnerung geblieben. Am Eingang standen noch die Schuhe, auf den Schreibtischen lagen noch Unterlagen.

"Es war, als ob die Menschen nur kurz verschwunden sind. Man hatte fast den Eindruck, dass man sich in einer Filmkulisse bewegt", sagt die Ostasien-Korrespondentin des ARD-Hörfunks im Gespräch mit unserer Redaktion. Sie ist in letzter Zeit häufig in die Sperrzone in der japanischen Präfektur Fukushima gereist. "Dort sieht vieles noch aus wie vor zehn Jahren."

Am 11. März 2011 löste ein Erdbeben vor der japanischen Küste einen Tsunami aus, 15 Meter hohe Wellen trafen auf das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi unweit der Küste. Nach der Überschwemmung kam es dort zu einer Kette von Ereignissen, an deren Ende die Kernschmelze in drei Reaktoren stand.

Der Name der Region steht seitdem ähnlich wie Tschernobyl für eine Nuklearkatastrophe, die die ganze Welt beschäftigt hat. In Deutschland beschloss die damalige Bundesregierung unter dem Eindruck der Ereignisse endgültig den Ausstieg aus der Atomenergie.

Japan-Expertin: "Regierung will, dass Region floriert"

Mehr als 100.000 Menschen mussten nach der Katastrophe ihre Heimat verlassen. Die Regierung richtete eine Sperrzone ein, die man bis heute nur unter Auflagen betreten darf und in der zum Teil Geisterstädte entstanden sind.

Inzwischen sind große Teile aber wieder freigegeben, die Deiche an der Küste massiv verstärkt worden. Die Regierung in Tokio setzt alles daran, dass Menschen in jene Landstriche zurückkehren, die als sicher gelten.

Sie lockt Zuzügler mit einer Prämie von 16.000 Euro an. "Die Regierung will, dass diese Region floriert, dass man zu ihr aufblickt. Das fördert sie mit viel Geld und Spitzentechnologie", erklärt Japan-Korrespondentin Erdmann.

Große Teile des Gebiets seien inzwischen wieder freigegeben. "Bis jetzt sind aber nur sehr wenige Menschen zurückgekommen." Häufig sind es Senioren, die ihren Lebensabend in ihrer alten Heimat verbringen wollen.

Weiterhin hohe Strahlenbelastung

Die Gegend ist in den vergangenen zehn Jahren aufwendig dekontaminiert worden. 16 Millionen Kubikmeter radioaktiv verseuchten Boden hat die Regierung entfernen lassen. Wie sicher oder unsicher die Rückkehr ist – dazu gibt es aber unterschiedliche Einschätzungen.

Shaun Burnie ist Atomkraft-Experte bei Greenpeace Deutschland und hat die Region häufig bereist. Zuletzt war er Ende 2019 vor Ort. Die Strahlenbelastung ist Burnie zufolge sehr unterschiedlich. Vor dem Unfall lag sie in der Region bei 0,04 Mikrosievert pro Stunde. Als Ziel nach der Dekontamination hat die japanische Regierung einen Wert von 0,23 ausgegeben.

In Teile der Städte Iitate und Namie können die Bewohner inzwischen zurückkehren. "Dort haben wir zum Teil 1 bis 1,5 Mikrosievert pro Stunde oder mehr gemessen", sagt Shaun Burnie. Noch erschreckender seien die Zahlen in der Umgebung des Sportzentrums J-Village außerhalb der Sperrzone, wo 2020 eigentlich der Fackellauf für die wegen Corona verschobenen Olympischen Spiele starten sollte.

Dort stellte Greenpeace im Herbst 2019 einen Spitzenwert von 73 Mikrosievert pro Stunde fest. "Es gibt in Japan Gegenden, in denen für eine sehr lange Zeit keine Menschen mehr wohnen sollten", ist Burnie überzeugt.

Fukushima: Geschmolzene Brennstäbe und kontaminiertes Wasser

Eine enorme Herausforderung ist für die Regierung und den Betreiber Tepco das havarierte Atomkraftwerk. Am Boden der Reaktoren liegen Greenpeace zufolge 600 bis 1.100 Tonnen Corium: eine Mischung aus Brennelementen und dem Metall des Reaktorbeckens.

Wie die radioaktive Substanz entfernt werden kann, ist noch immer unklar. Um sie zu kühlen, muss Wasser in die Becken gepumpt werden. Zu Beginn strömten zudem große Mengen Grundwasser in die Reaktoren. Das Wasser ist kontaminiert – die Betreiber müssen es abpumpen und in Tanks lagern.

Inzwischen haben sich rund 1,37 Millionen Kubikmeter Wasser angesammelt. Radioaktive Stoffe will der Betreiber Tepco mit einer speziellen Technologie herausfiltern. Tepco argumentiert, dass der Platz vor Ort bald nicht mehr reicht. Was aber soll dann mit dem Wasser geschehen?

Die Regierung hat eine Entscheidung bisher hinausgezögert. Dabei ist Burnie zufolge eigentlich klar, was passieren soll: Tepco wolle das Wasser in den Pazifik leiten. Diese Option stößt nicht nur bei Greenpeace auf heftigen Widerstand, sondern auch bei den örtlichen Fischern.

Sie befürchten langfristige und großräumige Schäden für das Meer, sein Ökosystem und die Menschen, die davon abhängig sind. Das Wasser ist nach Einschätzung von Greenpeace bisher nicht ausreichend dekontaminiert, um wieder in die Natur zu gelangen.

"Das Wasser muss in den besten verfügbaren Tanks aufbewahrt und mit der besten Technik gereinigt werden", sagt Burnie. Dass der Platz für die Lagerung vor Ort knapp wird, glaubt er nicht. Tepco will die Fläche nutzen, um die geschmolzenen Brennstäbe zu entfernen. Burnie bezweifelt aber stark, dass das mittelfristig überhaupt möglich ist: In Tschernobyl sei die Entfernung der Brennstäbe bis heute nicht gelungen.

Mehrheit inzwischen gegen Kernenergie

Für Tepco und die Regierung in Tokio ist das Thema delikat. Denn die Stimmung im Land hat sich gedreht, inzwischen spricht sich in Umfragen eine stabile Mehrheit der Japanerinnen und Japaner gegen die Atomenergie aus. Von ehemals 54 Reaktoren im Land sind derzeit nur neun in Betrieb.

Versuche, Kraftwerke wieder hochzufahren, scheitern häufig am Widerstand vor Ort. "Das Schlimmste ist für die Menschen der Vertrauensverlust in die Regierung und die Energie-Unternehmen", sagt Journalistin Kathrin Erdmann.

"Man hat ihnen über Jahre gesagt: Atomenergie ist sicher. Und darauf haben sie vertraut." Besonders bitter seien die Folgen der Katastrophe für die Menschen, die zuvor in der Region gewohnt haben. "Sie haben nicht nur ihre Häuser und ihre Heimat verloren. Sie fühlen sich auch innerhalb der japanischen Gesellschaft stigmatisiert."

Über die Experten: Die Radio-Journalistin Kathrin Erdmann arbeitet für NDR Info. Seit September 2018 ist sie Ostasien-Korrespondentin für den ARD-Hörfunk und zuständig für Japan und Südkorea.
Shaun Burnie ist Nuklear-Experte bei Greenpeace Deutschland. Er reist regelmäßig nach Japan, die Region Fukushima kennt er seit Mitte der 1990er Jahre.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Kathrin Erdmann, ARD-Hörfunk Tokio
  • Gespräch mit Shaun Burnie, Greenpeace Deutschland
  • Greenpeace Germany: Stemming the tide 2020 – The reality of the Fukushima radioactive water crisis
  • Öko-Institut e.V.: 5 Jahre Fukushima – Fragen und Antworten
  • Tepco: Treated Water Portal Site
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