Sie bilden die größte Minderheit in Europa - und ihre Diskriminierungsgeschichte ist fast so lang, wie ihre Vergangenheit auf dem europäischen Kontinent: In Deutschland leben Schätzungen zufolge rund 70.000 Sinti und Roma. Noch immer herrscht viel Unwissen über die Volksgruppe. Wo kamen sie her? Wer sind sie? Wissenschaftler Frank Reuter von der Universität Heidelberg und der Vorsitzende des Roma-Centers Göttingen, Kenan Emini, - selbst Angehöriger der Roma – bringen Licht ins Dunkel.

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Ihre blau-grüne Flagge mit einem roten Chakra in der Mitte gibt bereits einen Hinweis auf etwas, was vielen unbekannt ist: Die Bevölkerungsgruppen, die als "Roma" bezeichnet werden, stammen ursprünglich aus Nordindien – in der indischen Flagge findet sich ebenfalls ein Chakra.

Vor etwa 1000 Jahren wanderten Gruppen vom indischen Subkontinent aus, zogen unter anderem nach Europa und ließen sich dort nieder. Die Sinti, eine Untergruppe der Roma, fanden ihre Heimat vor allem in West- und Mitteleuropa, die Roma in Ost- und Südeuropa.

"Im engeren Sinne versteht man heute unter dem Begriff Roma die Nachkommen der Auswanderer, die in Osteuropa Fuß fassten und in den vergangenen 150 Jahren auch in den deutschen Sprachraum kamen. Die alteingesessenen Sinti leben hier schon seit dem späten Mittelalter", erklärt Frank Reuter von der Universität Heidelberg. Der Historiker leitet dort die Forschungsstelle Antiziganismus.

Größte ethnische Minderheit in Europa

Heute gehören die deutschen Sinti und Roma neben den Dänen in Südschleswig, den Friesen und den Lausitzer Sorben zu einer von vier anerkannten Minderheiten in Deutschland. In Europa bilden Roma die größte ethnische Minderheit. Schätzungen zufolge sollen etwa zehn Millionen in Europa leben, die meisten davon in Rumänien, Bulgarien und Spanien.

Der "Zentralrat Deutscher Sinti und Roma" nennt für Deutschland eine Zahl von 70.000. "Es gibt keine konkrete Angabe, weil in Deutschland die ethnische Zugehörigkeit nicht gesondert erfasst werden darf", so Experte Reuter.

Regionale Siedlungsschwerpunkte könne man auch nicht ausmachen. "Sinti und Roma leben im gesamten Bundesgebiet verteilt", so Reuter.

Ihre Daten nicht gesondert zu erfassen, hat mehrere Gründe, auch historische: Denn die Diskriminierungsgeschichte der Roma ist fast so lang, wie ihre Vergangenheit auf dem europäischen Kontinent: "Roma haben von Anfang an Diskriminierung, Verfolgung und Ausgrenzung erfahren, daneben hat es aber immer auch Formen der Kooperation und Teilhabe gegeben", sagt Reuter.

Geschichte der Diskriminierung

Besonders zur Zeit des Nationalsozialismus wurden viele Sinti und Roma auf grausame Weise zu Opfern: Mindestens eine halbe Million Menschen wurde im Völkermord getötet – vergleichbar mit der Vernichtung europäischer Juden. "Die rassische Erfassung im NS-Staat war eine zentrale traumatische Erfahrung für die Sinti und Roma und eine Voraussetzung für den Völkermord", erinnert Reuter.

Auch in der Nachkriegszeit wanderten Roma immer wieder nach Deutschland aus: "In den 1970er Jahren kamen Gastarbeiter aus Jugoslawien, darunter auch viele Roma", sagt Reuter.

Kenan Emini, Leiter des Roma-Centers in Göttingen, ergänzt: "Während des Kosovokrieges wurden ganze Siedlungen geplündert und niedergebrannt und viele Roma wurden vertrieben. Auch während aller Jugoslawien-Kriege zuvor flüchteten Roma nach Deutschland."

Parallel habe es immer Abschiebungen aus Deutschland gegeben. "Die Leute kommen aber immer wieder zurück, manche haben zwei oder drei Abschiebungen hinter sich", weiß Emini. In südosteuropäischen Ländern finden bis heute antiziganistische Demonstrationen, rassistische Ausschreitungen und gewaltsame Übergriffe bis hin zu Mord statt.

Sündenbock in der Coronakrise

"Die soziale, ökonomische und politische Marginalisierung hat auch heute noch kein Ende", beobachtet auch Historiker Reuter. Subtile Diskriminierungen und Benachteiligungen im Alltag seien an der Tagesordnung, sobald sich Angehörige zur Gruppe der Roma bekennen.

"Ein Handwerker hat mir berichtet, dass er befürchtet, seine Kunden würden ihm keine Schlüssel mehr geben, sobald er sich als Roma zu erkennen gibt", erzählt Reuter.

Und auch in den Zeiten der Coronakrise droht die Minderheit erneut zum Sündenbock zu werden: Bulgarien hat bereits ganze Roma-Siedlungen abgeriegelt, andere Staaten schicken Militär und Polizei.

"Auf der symbolpolitischen Ebene hat es mit dem Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma in Berlin und mit der Einrichtung einer 'Unabhängigen Kommission Antiziganismus' bereits wichtige Fortschritte gegeben", beobachtet Reuter. Gleichzeitig nehme aber der Gegenwind zu: "Die Kräfte, die Minderheiten als Sündenböcke benutzen, erleben einen Auftrieb", so Reuter.

Identität ist vielfältig

Dabei betont der Wissenschaftler: "Der Begriff 'Roma' bringt eine Homogenisierung mit sich, die die Vielfalt der Minderheit versteckt." Denn die Identität der Roma lasse sich nicht auf einen Nenner bringen, die Hintergründe der einzelnen Gruppen seien gänzlich unterschiedlich.

Reuter fordert: "Wir müssen endlich anerkennen, dass die Sinti und Roma hier eine jahrhundertelange Geschichte haben und Teil unseres Landes sind." Es sei für die Menschen kein Widerspruch, sowohl Deutscher als auch Sinto oder Rom zu sein.

"Sie sprechen zu Hause Romanes und im Supermarkt Deutsch", so Reuter. Doch selbst Sprache und Musik seien von Vielfalt geprägt: "Die Sprachen haben sich im Laufe der Jahrhunderte stark ausdifferenziert, auch die Musik reicht von Sinti-Jazz bis hin zu ungarischer Roma-Musik."

"Mehrheitsgesellschaft muss sich ändern"

Deshalb spricht sich Reuter auch dafür aus, den Selbstbildern der Sinti und Roma mehr Aufmerksamkeit zu widmen. "In den Medien dominieren Fremdzuschreibungen und es wird eine falsche Zigeunerromantik vermarktet", so der Experte.

Noch immer vorherrschende Stereotype drehten sich um Heimatlosigkeit, Nomadentum und Nicht-Zugehörigkeit. "Obwohl die meisten Roma fest in Regionen und Staaten verwurzelt sind, wird ihnen die mangelnde Fähigkeit, Loyalitäten auszubilden, zugeschrieben."

Auch Emini kann von Diskriminierung berichten. Zu seiner fachlichen Erfahrung kommen persönliche Erlebnisse hinzu, denn Emini ist selbst Rom und aus dem Kosovo geflohen. "Es werden Fake-News verbreitet, Roma würden Kinder klauen und die Organe verkaufen. In der Ukraine hängen im Bahnhof Bilder, die vor Diebstahl durch Zigeuner warnen."

Schon im 13. Jahrhundert habe die einflussreiche Kirche vor dem Kontakt mit den "Zigeunern" gewarnt, die sächsische AfD-Landtagsfraktion wollte 2018 die Sinti und Roma zählen lassen. Emini fordert deshalb: "Die Mehrheitsgesellschaft muss sich selbstkritisch betrachten. Ich sage laut: Es sind nicht Roma, die sich ändern müssen, sondern die Mehrheitsgesellschaft."

"Geld fließt an falsche Stellen"

In seinen Augen fließt das investierte Geld an die falschen Stellen. "Viel Geld wird in Programme und Projekte investiert, aber es kommt nie bei den Menschen an", ärgert er sich.

Die Infrastruktur in den Siedlungen, beispielsweise in Rumänien, müsse sich wirklich verbessern, um an der Not der Menschen etwas zu ändern. "Die Menschen brauchen fließendes Wasser und funktionierende Straßen – stattdessen gibt die EU Millionen für Wissenschaftler aus, die eine Roma-Website bauen", so Emini.

Ursprünglich wurde der internationale Roma-Tag auf den 8. April gelegt, weil an einem 8. April im Jahr 1971 in London der erste Welt-Roma-Kongress stattfand. "Das war damals ein politischer Tag. Heute ist der 8. April mehr zu einem Kulturfestival geworden. Das muss sich wieder ändern", fordert Emini.

Über die Experten:
Dr. Frank Reuter ist Historiker und Geschäftsführer der Forschungsstelle "Antiziganismus" an der Universität Heidelberg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen unter anderem auf "Zigeuner"-Bildern in visuellen Medien, dem Völkermord an den Sinti und Roma im Nationalsozialismus und der Diskriminierungsgeschichte nach 1945.
Kenan Emini ist Mitbegründer und Vorsitzender des Roma Center e.V. in Göttingen. Er arbeitet und engagiert sich seit vielen Jahren im Bereich Antidiskriminierung, Empowerment und Bleiberecht.

Verwendete Quellen:

  • Gespräche mit Dr. Frank Reuter und Kenan Emini
  • Webseite des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma
  • Planet-Wissen.de: Sinti und Roma in Deutschland​​​​​​​
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