Die Einschaltquoten sinken seit Jahren, die Kritik an den öffentlich-rechtlichen Sendern ist groß, in Großbritannien will Boris Johnson die BBC sogar abschaffen. 70 Jahre nach Gründung der ARD steht das System auf dem Prüfstand wie eh und je. Medienforscher Otfried Jarren spricht über die Vor- und Nachteile des Systems, Zukunftsaussichten und die Zahlungsbereitschaft der Nutzer.

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Die ARD wurde am 9. Juni 1950, also vor 70 Jahren, aus damals sechs Landesrundfunkanstalten gegründet. Ist das öffentlich-rechtliche System heute noch zeitgemäß?

Otfried Jarren: Die Struktur der ARD wie auch die Formen der Leistungserbringung sollten modernisiert werden, aber es bedarf weiterhin der journalistischen Massenmedien. Hierfür steht die ARD.

Journalismus bereitet gesellschaftsweit relevante Themen auf und stellt sie zur Meinungs- wie Willensbildung zur Verfügung. Neben dieser Informations- und Meinungsbildungsfunktion sorgen die Massenmedien für gesellschaftlichen Zusammenhalt und üben eine Kontrollfunktion aus. Social Media und Suchmaschinen können das nicht leisten.

Wieso?

Auf Twitter und Facebook wird nicht institutionalisiert die ganze Gesellschaft beobachtet, sondern man beobachtet sich selbst im Kontext mit der Familie, Freunden oder Gruppen. Man tauscht sich aus, berät miteinander Dinge. Das ist wichtig, es fehlt aber der Blick auf die Gesamtgesellschaft. Während Journalismus die Aufgabe hat, die gesamte Gesellschaft zu beobachten, daraus Themen zu generieren, gesellschaftliche Prozesse zu begleiten oder Themen aufzugreifen, geht es bei den sozialen Medien vorrangig um die Pflege von Beziehungen und den Austausch von Interessen. Professionelle journalistische Leistungen gibt es dort auch, aber eben nicht kontinuierlich wie systematisch.

Öffenlichter Rundfunk in Krisen wie Corona-Pandemie wichtig

Reicht dafür nicht ein System aus Presse, privaten Radio- und Fernsehsendern?

Die Presse erleidet derzeit, trotz der hohen Reichweiten aufgrund der Corona-Pandemie, deutliche ökonomische Einbußen: Werbung fällt weg, die Zahlungsbereitschaft sinkt. Deshalb sind die Informations-, Bildungs- wie Kulturleistungen durch den öffentlichen Rundfunk besonders wichtig. Er ist durch die Landesrundfunkgesetze zu bestimmten publizistischen Leistungen verpflichtet. Dabei müssen sie sich, weil durch Rundfunkbeiträge sehr gut finanziert, nicht an Quoten orientieren. Private Sender sind hingegen überwiegend im Bereich Unterhaltung stark und bieten einen deutlich geringeren journalistischen Beitrag. Das Mediensystem befindet sich in einem starken Wandel, und der öffentliche Rundfunk muss sich neu positionieren.

Warum kann das öffentlich-rechtliche System mit diesem Pfund der breiten Versorgung nicht mehr überzeugen?

Breite Versorgung muss das Ziel bleiben, das kann aber mit klassischen Fernsehprogrammen nicht mehr allein erreicht werden. Die Spezialisierung wie die Individualisierung in der Gesellschaft haben deutlich zugenommen. Die Menschen tendieren immer mehr dazu, speziellere Informationen zu nutzen und sie höher zu bewerten als das Allgemeine. Dann kommt ein massiver Wandel bei der Mediennutzung hinzu: Der Markt spaltet sich immer weiter auf. Jüngere Menschen nutzen vor allem Social Media, Streaminganbieter wie Netflix oder Plattformen wie YouTube. Ältere Menschen hingegen bevorzugen nach wie vor gebündelte Leistungen der Verlage oder die linearen Programme. Der Markt ist also differenziert, ebenso unterschiedlich sind die Erwartungen der Nutzerinnen und Nutzer, und das erfordert auch von den öffentlichen Medien neue, so spezialisierte Angebote wie neue Vermittlungsformen.

Gibt es weitere Nachteile des öffentlich-rechtlichen Systems ?

Das System ist historisch nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Grundlage der Vorstellung von Massenkommunikation gewachsen. Mit der Vorstellung einer Massengesellschaft zielte man vor allem auf Homogenisierung und gesellschaftliche Integration der Nachkriegsgesellschaft ab. Rechtlich wird noch immer stark an diesen Vorstellungen von Massenkommunikation, Rundfunk und Massenintegration festgehalten. Wichtige Entwicklungsschritte in die digitale Welt sind dem öffentlichen Rundfunk daher rechtlich verwehrt. So sind die Bestimmungen für den sogenannten Online-Bereich anachronistisch.

Problem der ARD: Landesgesetzgeber gibt Programmbereich vor

Was spricht noch gegen das aktuelle System?

Die Differenzierung im Programmbereich ist stark durch die Landesgesetzgeber determiniert. Übergreifende gesellschaftliche Aufgaben werden damit übersehen. Zugleich muss sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk zu einem öffentlichen Medienhaus entwickeln können. Das verhindern aber Landesparlamente wie die Rundfunkgremien: Sie haben sich eingerichtet, die Kooperation innerhalb der ARD ist daher sehr bescheiden. Gemeinsame Investitionen, etwa für eine ARD-Digitalplattform, stehen aus. Die Entwicklung einer Mediathek geht nur sehr langsam vonstatten. Die Mediennutzer aber erwarten immer mehr spezialisierte Angebote von den Massenmedien, so auch Kollaboration.

Die Infrastruktur der Öffentlich-Rechtlichen passt also nicht mehr?

Zumindest kommt die industrielle Logik der "Anstalten“ nicht mehr so gut an, wozu die Sendertechnologie wie auch die Angebotsstrukturen gehören. Der Rundfunk folgt immer noch einem linearen Verbreitungsprinzip, die Vernetzung mit Online-Angeboten oder der Mediathek ist sehr gering. Im Markt der sozialen Medien gibt es hingegen Austausch, Dienstleistungen, Gemeinsamkeiten oder dynamische Formen an Interaktion. Immer mehr Menschen nutzen Angebote zeitversetzt oder beschaffen sich via Suchmaschinen ihre Informationen, aber auch ihre Unterhaltung. News-Feeds erlauben gewisse Möglichkeiten an Individualisierung. Alles das bieten die öffentlichen Anstalten nicht. Sie wirken veraltet, nicht mehr modern – zumal für junge Menschen.

Lässt sich das verändern?

Es ist nun einmal so: Wir leben heute in einer Dienstleistungsgesellschaft und wir fragen Services nach, die auf uns personalisiert sind. Das Produkt des öffentlich-rechtlichen Journalismus ist dann immer nicht ganz genau das, was der Einzelne sucht und Nutzer weichen auf Suchmaschinen und Netzwerke mit personalisierten News-Feeds aus. Das führt zu Akzeptanzproblemen, zumindest bei den jungen Menschen.

Sinkt auch das Vertrauen?

Es variiert zwar nach Bildung, Einkommen und politischer Gesinnung, aber die Vertrauenswerte in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sind in allen europäischen Ländern auf einem sehr hohen Niveau. Beim privaten Rundfunk, wie übrigens auch bei den sozialen Medien, sind sie deutlich geringer.

Einzelnen ARD-Landesrundfunkanstalten erklärbar, aber nicht mehr zeitgemäß

Welche Kritik ist trotzdem angemessen? Wo müssen sich die Öffentlich-Rechtlichen wandeln?

Sie müssen sich aktiver mit der Gesellschaft und ihren Wandlungsprozessen auseinandersetzen. Das tun sie zu wenig. Sie müssen sich mit dem sozialen Wandel der Gesellschaft auseinandersetzen und dazu Beiträge leisten. Das erfordert hohe fachliche Kompetenzen, die aber kann man nicht mehr allein innerhalb eines Senders bündeln. Die einzelnen Landesrundfunkanstalten in den westdeutschen Bundesländern sind zwar historisch erklärbar, aber nicht mehr zeitgemäß. In den ostdeutschen Bundesländern hat man diese Kleinstaaterei von Beginn an nicht gelebt. Würde man heute neu gründen, so kämen natürlich Regionen und Bundesländer vor, aber sicher nicht mehr in dieser Form von Organisation.

Also muss ein neues Programm her?

Das allein kann auch nicht die Antwort sein. Es geht auch um einen Wandel in der Mentalität der Anstalten. Denn der Markt fordert brutal heraus: Streamer, Suchmaschinen, Onlineportale, Plattformen, soziale Medien, algorithmische Verteilung von Angeboten. Die Quoten des linearen Fernsehens werden weiter sinken, daran wird sich nichts ändern. Die bisherige Strategie, mittels Differenzierung bestimmte (junge) Zielgruppen anzusprechen - so bei "Funk“ - ist zu zaghaft. Und wenn Sendungen etwa auf YouTube bereitgestellt werden – zahlt das auf die Marke ARD ein? Durch das Differenzieren im Markt verlieren die Sender zudem weiter an Reichweite, vielleicht dann an Sichtbarkeit und Image. Den Öffentlich-Rechtlichen fehlt es an einer smarten, softwaregetriebenen Grundorganisation, um mit den zentralen Netzwerklogiken etwa von Facebook mithalten zu können.

Die Volksabstimmung in der Schweiz über den Rundfunkbeitrag endete mit seiner Kürzung, aber der Beibehaltung des Gebührenprinzips. Muss in Deutschland die Finanzierung der Öffentlich-Rechtlichen überdacht werden?

Aus der Schweizer Erfahrung kann man lernen: Viele Bürger haben die Einstellung, dass sie die Leistungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zwar schätzen, aber nicht mehr als bislang dafür bezahlen wollen. Die Nutzer fragen sich, für welche Leistung sie wie viel zahlen müssen. Und was kostet ein Netflix-Abonnement? Was bietet ein ARD-Programm für eine 30-jährige Frau in der Großstadt oder auf dem Lande? Immer mehr Menschen wollen Auswahlentscheidungen treffen und nicht für unbestimmte oder für sie nicht hinreichende Angebote pauschal bezahlen.

"Abgaben für Rundfunkbeitrag müssen begründet werden"

Ist der Rundfunkbeitrag zu hoch?

Die Abgaben müssen begründet werden, das leisten ARD und ZDF in unzureichender Weise. Der Dialog mit den Nutzern muss geführt werden. Auch hier vermisst man Aktivitäten von ARD wie ZDF. Die Legitimation für die doch recht hohen Gebühren wird weiter schwinden. Andererseits muss die Politik aufhören, alle Details beim Rundfunk organisieren und regeln zu wollen. Es wird viel zu viel politische Kontrolle ausgeübt. Auch deshalb wird dann der öffentliche Rundfunk in bestimmten Kreisen gescholten. Der öffentliche Rundfunk muss sich zu einem öffentlichen Medienhaus entwickeln können – dazu benötigt er mehr Autonomie. Und sicher benötigt er auch einen höheren einmaligen Betrag, um ein integrales Digitalangebot aufbauen zu können.

Wie viel Zeit bleibt noch?

Angesichts der Geschwindigkeit des Wandels im Markt und bei der Nutzung bleibt nicht viel Zeit. Es handelt sich nicht um ein PR-Problem, sondern der öffentliche Mediensektor muss neu aufgestellt werden. Die Kleinstaaterei mit einzelnen Landesrundfunkanstalten sollte der Vergangenheit angehören, vielleicht braucht es für bestimmte Bereiche ein einzelnes Kompetenzzentrum. Die Organisationsstruktur der ARD ist zu überdenken. Das erfordert Mut, aber ohne Wandel wird die ARD an Bedeutung verlieren, Jahr für Jahr.

Über den Experten: Prof. em. Dr. Otfried Jarren ist Kommunikationswissenschaftler und forscht am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung an der Universität Zürich. Jarren ist zudem als Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin in Lehre und Forschung tätig. Er ist Präsident der Eidgenössischen Medienkommission (EMEK), die den Schweizer Bundesrat und die Verwaltung in Medienfragen berät.
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