Es war ein Vorbote für den Zweiten Weltkrieg: Vor 75 Jahren besetzten deutsche Truppen die sogenannte "Rest-Tschechei". Mit dem Einmarsch brach Reichskanzler Adolf Hitler mit dem "Münchner Abkommen" und offenbarte seine Kriegslust. Zeitzeuge Max Mannheimer schildert, wie sich seine Heimat mit einem Schlag veränderte.
Am 15. März 1939 rückte die Wehrmacht in das noch unbesetzte Restgebiet der Tschechei ein. Mit seinem provokativen "Griff nach Prag" machte Hitler deutlich, dass er sich nicht um Versprechen und internationale Abkommen scherte. Nur wenige Monate später begann mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg.
Der damals 19-jährige Max Mannheimer, in der Tschechoslowakei aufgewachsen und heute einer der bekanntesten Zeitzeugen des Holocausts in Deutschland, erlebte den Einmarsch deutscher Truppen bereits zum zweiten Mal. Nur wenige Wochen zuvor musste seine Familie den Heimatort Neutitschein im Sudetenland verlassen und nach Ungarisch-Brod in Südmähren umsiedeln, das noch nicht von den Deutschen besetzt war. Doch auch hier folgten die Nazis nach.
Antisemitismus spielte zunächst kaum eine Rolle
Von dem aufstrebenden Nationalsozialismus im Nachbarland bemerkt er in seiner Kindheit und Jugend nur wenig. "Für mich war das alles sehr weit weg", erinnert sich Mannheimer. Die Zeitung durchblätterte er mehr nach den Sportnachrichten als nach Politik. Auch sein Vater, ein einfacher Kaufmann, zeigte kein Interesse an politischen Themen.
Zu dieser Zeit hatte deutsche Kunst und Kultur hohes Ansehen unter den jüdischen Familien Mittel- und Osteuropas. "In jedem kultivierten Haushalt befand sich deutsche Literatur", sagt Mannheimer. Seine Mutter habe gerne deutsche Klassiker gelesen. "Niemand konnte sich vorstellen, dass Angehörige eines Volkes, das der Welt so viele kulturelle Güter gebracht hat, später solche Verbrechen begehen würden."
Antisemitismus spielte in Neutitschein zunächst kaum eine Rolle. In der Schule hat Mannheimer nur selten judenfeindliche Äußerungen zu spüren bekommen. Erst auf der Handelsschule, die er von 1934 bis 1936 besuchte, hielt eine Mitschülerin ein Hitler-Bild in seine Richtung. Darüber erschrak er.
Im annektierten Sudetenland wird der deutsche Einmarsch gefeiert
Mit einem Schlag änderte sich die Situation. 1938 holten Hitlers Truppen Österreich "Heim ins Reich", wenig später wird das zur Tschechoslowakei gehörende Sudetenland im "Münchner Abkommen" an das deutsche Reich abgetreten. Vielerorts, auch in Neutitschein, werden die Deutschen begeistert empfangen. "Eine Kleinstadt steht Kopf. Überall hängen Hakenkreuzfahnen und Transparente 'Wir danken unserem Führer', 'Wir begrüßen unsere Befreier'", heißt es in Mannheimers Notizen, die 2000 unter dem Titel "Spätes Tagebuch" veröffentlicht wurden.
Plötzlich reagierten frühere Mitschüler, Angestellte und Nachbarn mit Ignoranz, Verachtung und Schadenfreude auf die jüdischen Mitbürger. Im väterlichen Lebensmittelgeschäft erklärten viele deutsche Kunden, nicht mehr dort einkaufen zu können. Manche Tschechen eiferten der Deutschtümelei nach, gaben sich deutsche Namen, kleideten sich in Dirndl und braunen Uniformen. Eine alte Frau tauschte das Marienbild an ihrem Haus gegen ein Hitlerbild aus, erzählt Mannheimer. Andere Zeiten, andere Götter.
"Es wird schon nicht so schlimm werden"
Die Familie Mannheimer gab sich trotzdem optimistisch. "Es wird schon nicht so schlimm werden", sagten sie sich. Vater Jakob wollte den Laden nicht aufgeben und vertraute seinem guten Ruf. Schließlich hatte er sieben Jahre in der österreichischen Armee gedient, war im Ersten Weltkrieg an der Front. Seine Steuern hat er immer pünktlich bezahlt.
In der "Kristallnacht" wurde die städtische Synagoge geplündert, Vater Mannheimer in "Schutzhaft" genommen. Infolgedessen musste die Familie im Januar 1939 das deutsche Reichsgebiet verlassen. Doch auch nach dem Umzug nach Ungarisch-Brod wurden sie von den Nationalsozialisten eingeholt. Wieder erlebten sie die Veränderungen mit, die mit dem Anschluss an das deutsche Reich einhergingen. Hakenkreuzfahnen hingen an den Häusern, Straßen- und Ortsnamen wurden umbenannt. Allerdings fühlte sich die Bevölkerung hier eher "besetzt" statt "befreit". Die meisten Einwohner waren Tschechen, in dem Ort lebten nur wenige deutsche Familien.
Wegen der geltenden Berufsverbote für Juden arbeitete Max Mannheimer beim Straßenbau. Am 1. September 1939 sah er auf "seiner" Straße eine nicht enden wollende Kolonne von deutschen Militärfahrzeugen vorbeirollen – der Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Trotz immer mehr Verboten und Gesetzen, die das Leben der Juden stark einschränkten, blieb er unbekümmert und zuversichtlich. Ein junger Mann von 20 Jahren, der gerade seine erste große Liebe erlebte und den Kopf voller Zukunftspläne hatte. Nur vereinzelt verbreiteten sich Nachrichten über das Getto Theresienstadt. "Wir sehen nicht die Gefahr, die auf uns zukommt. Wir wollen sie nicht sehen", beschreibt Mannheimer die Stimmung in seinem Buch.
"Ich bin kein Richter oder Ankläger"
Optimismus - auch dann noch, als sich die Familie im Januar 1943 zum Transport nach Theresienstadt einfinden musste. Von dort ging es weiter nach Auschwitz. Auf der Todesrampe sah er seine Eltern, seine Schwester Käthe und seine Frau Eva zum letzten Mal, bevor sie ermordet wurden. Im Konzentrationslager erlebte Mannheimer Hunger, Kälte, Prügel, Krankheiten, sterbende Mithäftlinge und was all dies aus Menschen macht. Von der achtköpfigen Familie überlebten nur sein jüngerer Bruder Edgar und er, völlig entkräftet und bis auf das Skelett abgemagert, den Holocaust.
Rachegefühle sind ihm bis heute fremd. Auch mit 94 Jahren klärt er noch deutsche Schulklassen über das Dritte Reich und die "Verführungen der Diktatur" auf, erzählt in Vorträgen seine schmerzlichen Erinnerungen an die Konzentrationslager. Mit Verständnis, Weisheit und auch mit viel Witz zieht er die Zuhörer in seinen Bann. Der Schalk blitzt in seinen Augen auf, wenn er erzählt, wie er Angela Merkel als erste Bundeskanzlerin in die KZ-Gedenkstätte Dachau gelotst hat. Mannheimer kommt als Versöhner: "Ich bin kein Richter oder Ankläger", betont er. "Ich versuche immer, den jungen Leuten das Gefühl zu geben, dass sie nicht schuldig sind, sondern Verantwortung für die Zukunft haben."
Max Mannheimer, geboren 1920 in Neutitschein (damals Tschechoslowakei), gehört zu den bekanntesten Zeitzeugen des Holocausts in Deutschland. Seit 1986 berichtet er vor Schülern und Erwachsenen über seine Erlebnisse. Für seine Erinnerungsarbeit wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Seine Erlebnisse erschienen unter dem Titel "Spätes Tagebuch".
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.