Am 30. Januar 1939 rief Adolf Hitler zur Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in Europa auf. Folge dieser Drohung war der Völkermord an sechs Millionen Juden. Im Gespräch mit diesem Portal erklärt die Zeitzeugin Margot Friedlander, warum es bereits zu diesem Zeitpunkt kaum noch eine Chance auf Flucht gab.
War der jüdischen Bevölkerung die Brisanz der Situation nach Adolf Hitlers Ansprache am 30. Januar 1939 sofort bewusst?
Friedlander: Ich war damals 17 Jahre alt. Die Realität wurde solange wie möglich von uns Kindern fern gehalten. Aber ich kann sagen, dass es die ersten Anzeichen wohl schon weit früher gab. 1933: Mein Cousin aus der Tschechoslowakei, Erich, der mehrere Jahre bei uns gelebt hatte und politisch sehr engagiert war, kam eines Tages mit einem blauen Auge nach Hause. Kurz darauf sagte er: "Ich gehe zurück zu Hilde, in die Tschechoslowakei. Das ist sicherer." Das war unsere erste Berührung mit dem Thema. Natürlich fragten wir uns, was vorgefallen war, aber er wollte nicht darüber reden. Er war in Sorge, das konnte man ihm ansehen. Aber zum damaligen Zeitpunkt haben wir nicht weiter darüber nachgedacht.
Wie verhielt es sich in den folgenden Jahren?
Friedlander: Ähnlich. 1936 kam Erich nach Berlin zurück. Die Situation hatte sich beruhigt. Man glaubte, alles war wieder normal. Meine Tante und Onkel waren aber bereits 1935 ausgewandert. Ich kann mich noch gut an die Verwunderung meines Vaters erinnern. Der konnte es gar nicht verstehen, wie die beiden ein gutes Geschäft aufgeben und das Land verlassen konnten. Sie sehen, es ging Auf und Ab. Niemand wusste wirklich, was passieren würde.
Warum ist man nach der Aufforderung zur Judenverfolgung nicht sofort ausgereist?
Friedlander: Wissen Sie, dass wir 1939 kaum noch eine Möglichkeit hatten auszureisen? Natürlich wären wir gerne gegangen. Nach der Reichskristallnacht wussten wir: Hitler geht nicht, wir müssen gehen. Aber es gab so viele Komplikationen, die es einem schier unmöglich machten, das Land zu verlassen. Meine Tante aus Brasilien hatte uns zum Beispiel Visa geschickt. Wir standen damals vor dem Konsulat, voll bepackt und bereit, Deutschland zu verlassen.
Woran ist die Ausreise letztendlich gescheitert?
Friedlander: Der zuständige Beamte erzählte uns, dass unsere Tante wohl auf einen Schwindler reingefallen war, dass es keine Visa gab. Vielleicht war es eine Lüge, wir haben es jedoch geglaubt. Sie sehen, die Ausreise aus Deutschland wurde von verschiedenen Seiten manipuliert. Meine Mutter hatte auch versucht uns für die Ausreise nach Amerika zu registrieren. Da hieß es vom Konsulat, es würde fünf bis sechs Jahre dauern, bis unsere Registrierungsnummer aufgerufen werden würde. Man brauchte nicht nur eine Bürgschaft für die USA, man brauchte auch eine Quotennummer. Monatlich wurde immer nur ein bestimmter Teil von Flüchtlingen in das Land gelassen (27.370 pro Monat; Anm. d. Red.). Das heißt, es war ein langer, komplizierter Prozess. Viele dieser Nummern wurden niemals aufgerufen. Die Nummern, die aufgerufen wurden, haben dann auch nicht sicher ein Visum bekommen, da es allerlei Komplikationen gab. Denken Sie nicht, wir hätten nicht gern unser Köfferchen genommen und uns an den Bahnhof gestellt?
Gab es Hilfe aus der deutschen Bevölkerung?
Friedlander: Kaum, die meisten Deutschen machten die Augen zu und taten nichts. Warum Millionen Menschen gejubelt, beziehungsweise geschwiegen haben? Ich weiß es nicht. Vielleicht haben sie selbst profitiert oder sich etwas von der Regierung versprochen. Es gab auch Deutsche mit Zivilcourage, aber das waren sehr, sehr wenige.
Hatten die Deutschen es nicht gewusst?
Friedlander: Etwas hat jeder gewusst. Es kann keiner sagen, er habe nichts gewusst. Denn unsere deutschen Helfer sagten immer: "Wir wissen nicht viel, aber seit es die gelben Bänke für Juden gibt, wissen wir, hier stimmt etwas nicht." Es war nicht nötig zu wissen, dass die Menschen in Konzentrationslager geschafft und dort vergast wurden. Alleine zu sehen, wie jüdische Geschäfte 1938 zerstört wurden und jüdische Menschen in den folgenden Jahren zu Fuß durch Berlin getrieben wurden, da konnte keiner sagen: Ich weiß von nichts.
Ab wann wussten Sie, dass die Situation lebensbedrohlich wird?
Friedlander: Lebensbedrohlich? Das wusste keiner. Alles was wir wussten war, dass die Züge nach Osten gehen. Niemand hatte bis dahin von Ausschwitz oder den anderen Lagern gehört. Nur die Transporte nach Theresienstadt wurden bekanntgegeben. Aber Theresienstadt war zu Beginn nur ein Vorzeige-Lager der Nazis. Damals wurde sogar ein Propaganda-Film mit dem Titel "Hitler baut den Juden eine Stadt" produziert. Selbst das Internationale Rote Kreuz kam mehrmals nach Theresienstadt, um die dortigen Geschehnisse zu kontrollieren. Ihnen wurde jedoch eine falsche Realität vorgegaukelt. Es waren schöne Zimmer mit ordentlicher Einrichtung zu sehen, die angeblich für die Juden so vorbereitet wurden. Dass das Internationale Rote Kreuz diese Lüge geschluckt hat, ist mir heute noch unverständlich.
Hatte die jüdische Bevölkerung Hoffnung, dass sich das Blatt noch wenden würde?
Friedlander: Anfang 1938 hatten wir den Glauben noch. Wir hofften, dass sich diese Regierung nicht halten würde und wir es aussitzen könnten. Mein Vater hat im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft, wurde hoch dekoriert, hat Freunde und Verwandte für dieses Land verloren. Als die Judenverfolgungen losgingen, sagte mein Vater: "Die meinen uns nicht". Wieso auch? Wir waren ja Deutsche.
Haben sich die Juden von dem Rest der Welt verlassen gefühlt?
Friedlander: Ich kann nicht für das jüdische Volk sprechen. Aber erinnern Sie sich an die Evian-Konferenz (Juli 1938 in Evian-les-Bains, Frankreich; Anm. d. Red.)? Bei dieser Konferenz trafen sich große Staatsmänner wie Roosevelt. Dort sollte besprochen werden, wie die Auswanderung der Juden verbessert werden kann. Doch letztlich passierte nichts. Da wurde eine große Chance vergeben. Ich habe 65 Jahre in Amerika gelebt, möchte die USA aber nicht schuldfrei sprechen. Wie gerne wären diese Millionen Juden ausgewandert, aber es gab keine Möglichkeit, und eine Teilschuld müssen sich da auch die vier alliierten Mächte anrechnen lassen. Es wären vielleicht nicht sechs Millionen umgekommen, aber viele Menschen hätten überlebt, wenn man uns die Möglichkeit gegeben hätte.
Können Sie sich noch an ihren ersten Gedanken erinnern, als Sie Amerika dann endlich erreicht hatten?
Friedlander: Ich kann mich erinnern, als wir mit dem Schiff das Festland der USA erreichten, war ich ein freier Mensch. Als ich die Freiheitsstatue zum ersten Mal sah, dachte ich zu mir: "Freiheit hast du uns nicht gegeben. Jetzt bin ich bereits frei. Wo warst du, als wir dich gebraucht haben?"
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