Ahmad Mansour ist arabischer Israeli und war in seiner Jugend ein Anhänger des Islamismus. Während seines Studiums in Tel Aviv liberalisierte er sich und lebt seit 2004 in Berlin. Er ist Diplom-Psychologe und arbeitet für Projekte gegen Extremismus und Antisemitismus. Im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt Mansour, warum er heute nicht mehr der öffentliche Liebling ist und was die Silvester-Krawalle mit patriarchalen Erziehungsmethoden zu tun haben.

Ein Interview

Herr Mansour, Sie werden hin und wieder als Nazi beschimpft. Wie erklären Sie sich das?

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Ahmad Mansour: Das hat mit zwei Gruppen zu tun. In der Migrationsdebatte nach den Silvesterausschreitungen wurde ich von linken Ideologen, linken Aktivisten mit dem Wort beschimpft. Sie waren der Meinung, dass die Benennung von Herkunft, Sozialisation und Erziehungsmethoden rassistisch sei. Die zweite Gruppe waren aktivistische Migranten, die für islamistische Organisationen arbeiten und kritische Stimmen wie mich durch Rassismus- und Islamophobie-Vorwürfen diffamieren wollen.

Sie sind Sohn arabischer Israelis und wuchsen in einer nicht-praktizierenden muslimischen Familie auf. Da klingen die Vorwürfe auf den ersten Blick absurd.

Ich treffe dauernd Leute auf der Straße, die mir sagen: "Herr Mansour, Sie können so offen über Migranten sprechen, weil Sie ja vor Nazi-Beschimpfungen geschützt sind". Das ist aber schon längst nicht mehr der Fall. Es ist heutzutage verdreht und absurd. Was habe ich mit Nazis zu tun? Ich war das Opfer von Rechtsradikalen, habe als Migrant auch Rassismus-Erfahrungen gemacht.

Unsere kaputte Debatten-Kultur funktioniert durch gegenseitige Beschuldigungen. Wir wollen nicht mehr Argumente austauschen, sondern delegitimieren alles, was uns nicht gefällt. Dann kommt da beispielsweise der Nazi-Stempel drauf. Das betrifft nicht nur den Deutschen ohne Migrationshintergrund, sondern auch viele kritische Migranten.

Sie gehen in Ihrem Buch "Operation Allah" mit der deutschen Linken hart ins Gericht. Deren Identitätspolitik sei ein Geschenk für den politischen Islam, also für eine Strömung des Islam, die sich gegen den demokratischen Verfassungsstaat, seine Institutionen und Grundrechte richtet. Was meinen Sie damit?

In Deutschland haben wir aktuell eine Zusammenarbeit zwischen linken Ideologen, die alle Menschen in Gruppen einteilen. Muslime werden von denen als eine schutzbedürftige Minderheit angesehen. An sich ist der Gedanke ja gut. Wenn Islamisten aber vor muslimischen Kritikern geschützt werden sollen und jede Radikalisierungstendenz und Fehlverhalten der Community sofort als islamfeindlich dargestellt werden, dann wird somit dem politischen Islam der Rücken freigehalten. Wenn Linke nur den Rechtsradikalismus als Gefahr sehen und alles andere verharmlosen, verharmlosen sie auch den politischen Islam.

Sie kamen selbst während der Schulzeit in Kontakt mit einem fundamentalistischen Imam. Ihr Psychologiestudium in Tel Aviv half Ihnen später, sich vom Islamismus zu lösen.

Ich radikalisierte mich nicht aus religiösen Motiven, sondern weil ich unzufrieden war und einen Neuanfang suchte. In der Schule auf dem Dorf wurde ich viel gemobbt, deshalb folgte ich leidenschaftlich dem extremen Weg, nachdem ich von Islamisten angesprochen wurde. Bis zu meinem Studium im liberalen Tel Aviv. Dort begegnete ich Menschen, die ich bis dato als meine Feinde ansah. Jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, die oft säkular lebten. Dabei erkannte ich, dass die Vorurteile gegen sie falsch waren. Zweitens lernte ich kritisches Denken durch Bücher von Freud, Machiavelli und Nietzsche. Nach Jahren verabschiedete ich mich dann von der islamistischen Ideologie.

Ahmad Mansour: "Angela Merkel hat damals nicht definiert, was wir genau schaffen wollen."

Lassen Sie uns auf das Jahr 2015 schauen. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte angesichts der großen Fluchtbewegung den berühmten Satz "Wir schaffen das". Was hat sich seitdem in der deutschen Migrationspolitik verändert?

Bei all den Schwierigkeiten, die wir haben, treffe ich täglich Leute, die damals zu uns gekommen und angekommen sind, wie Tontechniker, Studenten oder Verkäufer. Angela Merkel hat damals allerdings nicht definiert, was wir genau schaffen wollen. Sollen die Geflüchteten hier nur ankommen, sollen sie hier arbeiten oder wirklich ein Teil dieser Gesellschaft werden? Neben Sprache und Arbeit gehört dazu auch die Verinnerlichung der Grundwerte. Da haben wir noch einen langen Weg vor uns. Noch immer soll Asyl und Migration ganz schnell erledigt werden. Wir bieten den Menschen keine Begleitung oder arbeiten nicht mit ihnen an Identitätsverlust-Ängsten.

Von daher meine ich, dass wir es nicht geschafft haben – weder mit den Leuten von 2015 noch heute mit den Geflüchteten aus der Ukraine. Sie sollen uns nur als humanistischer oder moralischer Anstrich dienen. Wie schnell vergessen wir die Menschen, lassen diese alleine. Teilweise kenne ich welche, die seit sieben Jahren in einem Asylheim leben.

Bei anderen schien sich Frust und Perspektivlosigkeit an Silvester zu entladen. Wie erklären Sie sich das Verhalten der größtenteils jungen Männer?

Mich hat die Debatte über die Ausschreitung an Silvester schockiert, wir waren kaum in der Lage, offen darüber zu diskutieren. Es wurde ganz schnell relativiert, verdrängt und tabuisiert. Und auf der anderen Seite nutzten Rassisten die Debatte, um Vorurteile gegen Migranten zu schüren.

Man kann mit Perspektivlosigkeit nicht alles erklären. Das passt vielleicht zu den ideologischen Einstellungen mancher Politiker, die Realität dagegen ist viel komplexer. Gewalt gegen die Exekutive ist kein neues Phänomen. Reden Sie mal mit der Berliner Polizei. Es gibt eine Gruppe von Migranten, die unsere Rechte verachten, die die Polizei ablehnen. Gewalt wird dort als etwas Cooles angesehen. Außerdem wird durch patriarchalische Erziehungsmethoden Gewalt als Kommunikationsmittel gelehrt, und Autoritäten werden nur akzeptiert, wenn sie aus dem gleichen Kulturkreis kommen, andere werden oft als schwach wahrgenommen.

Inwiefern?

Der Umgang mit Gewalt in patriarchalischen Strukturen begünstigt und stärkt solche Gewaltattacken. Meine Arbeit mit Gefängnisinsassen zeigt, dass diese oft zuhause Gewalt erlebt haben. Sie haben gelernt, dass Gewalt ein Kommunikationsmittel ist. Sie konnten aus Minderwertigkeitskomplexen nicht gegen die Eltern rebellieren. Das tun sie dann draußen gegen deutsche Autoritäten wie die Polizei und Rettungskräfte.

Ich verstehe nicht, warum wir manche Gründe nennen und andere nicht. Neulich traf ich einen Polizeisprecher, der mir sagte, dass er aufpassen müsse, was er sage. Das könne ja die Falschen bedienen. Das kann nicht Gegenstand der Diskussion sein. Wenn ich aufhöre, Dinge anzusprechen, weil meine Erkenntnisse an die falsche Adresse gelangen könnten, gerate ich sofort an die Falschen. Denn nehme ich diese als Kompass der Debatte, orientiere mich an denen. Das ist falsch!

"Meine Aufgabe ist nicht, die Integrationspolitik PR-mäßig positiv darzustellen"

Erschwert es nicht auch ein Stück weit die Integration, wenn Sie ständig das typische Bild des männlichen Patriarchen in der Öffentlichkeit proklamieren?

Die Mehrheit der Menschen, die seit 2015 zu uns gekommen sind, ist jung, männlich und stammt aus patriarchalischen Strukturen. Natürlich gibt es Erfolgsgeschichten, natürlich gibt es freiheitsorientierte Menschen. Meine Aufgabe ist nicht, die Integrationspolitik PR-mäßig positiv darzustellen, sondern Realitäten abzubilden und Herausforderungen zu benennen.

Auf Twitter haben Sie vor Kurzem ein Straßenschild aus Düsseldorf gepostet, das den Straßennamen auf Arabisch und auf Deutsch zeigt. Trägt so eine Aktion zur Integration bei?

Dafür habe ich viel Kritik bekommen. Ich komme aus einem Land, in dem Schilder mit drei Sprachen versehen sind: Hebräisch, Arabisch und Englisch. Das bedeutet nicht den Untergang des Abendlandes. Trotzdem verstehe ich die Ängste. Muezzin-Ruf hier, Parallel-Gesellschaften da – und dann noch ein Schild dazu. Solche Aktionen wie das Düsseldorf-Schild können wertvolle Anstöße sein, sie müssen aber gut gemacht sein. Mit mehreren Sprachen, nicht nur der arabischen, damit sich viele Leute angesprochen fühlen.

Was kann unsere Gesellschaft noch gegen Radikalisierung tun?

Vor einem Jahr war die Regierung der Meinung, dass die Gesellschaft nicht gespalten ist. Man hat nur eine Minderheit als Querdenker und Idioten abgestempelt. Ich meine dagegen, dass wir eine Spaltung haben. Es wäre Zeit für eine Versöhnungskampagne, in der wir die Leute durch Gespräche und Diskussionen einbinden.

Das gilt natürlich nicht für alle Spinner und Radikalen. Es gibt aber eine große Gruppe von Menschen, die unzufrieden mit bestimmten politischen Entscheidungen sind – und die nicht mitgenommen und erreicht werden. Mein Appell an die Politik: Lasst uns Demokratie leben, indem wir Argumente austauschen, diskutieren und streiten. Sonst verlieren wir die Menschen.

Wie könnte eine solche "Versöhnungskampagne" aussehen?

Ich stelle mir eine Debattenkultur vor, in der alle teilnehmen können, in der Menschen zugehört wird, in der ihre Ängste wahrgenommen werden. Nur so können wir gesunde Diskurse führen, was wiederum präventiv Extremismus entgegenwirken kann.

Was kann denn gegen rechte Gewalt und Antisemitismus in Deutschland getan werden?

Präventiv können Begegnungen Vorurteile abbauen, dazu brauchen wir aber eine neue Wohn- und Schulpolitik. Wir müssen die Themen der Extremisten sachlich und differenziert in der Mitte der Gesellschaft besprechen, die sozialen Medien mit Gegennarrativen füllen. Repressiv, genau wie beim Islamismus, braucht es eine starke Polizei und Sicherheitsorgane, die solche Gewalttaten erkennen und verhindern.

"Nicht ich habe mich aber verändert, sondern die Gesellschaft"

Und was raten Sie jungen Menschen, die nach Deutschland kommen?

Ein emotionaler Zugang in einer offenen Mehrheitsgesellschaft ist der richtige Weg für Integration. Je mehr ich als Migrant in Parallelgesellschaften lebe, desto mehr werde ich nur mein Essen essen, meine Sprache sprechen, meine Werte dort finden. Ich kann natürlich verstehen, dass man Gleichgesinnte sucht. In Neukölln habe ich mich anfangs auch sehr wohl gefühlt. Trotzdem ist es wichtig, zur Schule zu gehen, Arbeit zu finden und in gemischten Vierteln zu wohnen, um die Gesellschaft zu erleben und täglich ganz unterschiedlichen Menschen zu begegnen – anstatt sich auf Vorurteile und das Hörensagen zu verlassen.

Sie fallen in der Öffentlichkeit oft durch kontroverse Thesen auf und erhalten dafür viele Hassnachrichten und Drohungen. Wie gehen Sie damit um?

Menschen von PR-Agenturen oder Verlagen wollen mir oft sagen, wie ich mich zu verhalten habe, damit ich der Liebling der Nation werde. Ich soll viel zum Thema Migration schreiben, aber nichts von meinen Erfahrungen, meinen Beobachtungen erzählen. Das lehne ich ab. Ja, ich war mal der Liebling, habe Preise bekommen, und jetzt gelte ich als umstritten. Nicht ich habe mich aber verändert, sondern die Gesellschaft – die Bereitschaft, sich offen und ehrlich auszutauschen.

Sie stellen sich also auf keine Seite?

Ich bin weder gegen Ausländer oder Flüchtlinge noch gegen Muslime. Ich bin einer davon und habe Deutschland bewusst als meine Heimat gewählt. Ich möchte Menschen erreichen, gewinnen und integrieren, das schafft man nicht dadurch, dass man Migranten als Kuscheltiere behandelt, sondern dadurch, dass man sie als gleichberechtigte Bürger wahrnimmt, und das bedeutet auch negative Entwicklungen in solchen Communitys offen, aber sachlich anzusprechen.

Zurzeit herrscht aber nur Hass und Ablehnung zwischen den verschiedenen Gruppen. Wenn ich jetzt mundtot gemacht werde – ist unsere Gesellschaft dann demokratischer und offener? Dass ich unter Polizeischutz leben muss, ist eine Nebenwirkung, mit der ich meinen Frieden gemacht habe.

Über die Person: Ahmad Mansour, geboren 1976, ist Autor und Psychologe aus Berlin. Geboren wurde Mansour, Sohn arabischer Israelis, in der israelischen Kleinstadt Tira. Er lebt seit 2004 in Deutschland. Seit 2017 ist er deutscher Staatsbürger und Geschäftsführer der Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention (MIND) GmbH.
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