Die SPD will ihr Profil schärfen und politisch wieder in die Offensive kommen. Eine zweitägige Klausurtagung des Parteivorstands soll Konzepte zur Stärkung des Sozialstaats erarbeiten, inklusive der Abkehr von Hartz IV. Die letzte Chance für Parteichefin Andrea Nahles?

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Die SPD verabschiedet sich von dem umstrittenen Hartz-IV-System. Der Parteivorstand beschloss am Sonntag auf seiner Klausurtagung in Berlin einstimmig das von SPD-Chefin Andrea Nahles vorgelegte Konzept für eine Reform des Sozialstaats. Dieses sieht unter anderem vor, Hartz IV durch ein neues Bürgergeld zu ersetzen.

Die bisherigen Regelsätze sollen zwar unverändert bleiben. Aber wer lange eingezahlt hat, soll bei Arbeitslosigkeit auch länger Arbeitslosengeld statt Sozialhilfe bekommen, bis zu drei Jahre statt bisher maximal zwei Jahre.

Nahles räumte ein, dass das zunächst in der Koalition mit der Union nicht umzusetzen sei. "Das ist erstmal eine Positionierung der SPD".

SPD formuliert neue sozialdemokratische Politik

Mit ihren Vorschlägen für eine umfassende Reform des Sozialstaats will die SPD ihr Profil schärfen und politisch wieder in die Offensive kommen.

Es gehe darum, die Lebensarbeitsleistung von Menschen wieder stärker anzuerkennen, sagte Parteivize Manuela Schwesig am Sonntag zum Auftakt einer zweitägigen Klausurtagung des Parteivorstands im Willy-Brandt-Haus. Aus der Union kam allerdings erneut Kritik an den SPD-Vorschlägen.

SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sagte, ein Jahr lang habe man in die Partei hinein gehorcht, rund 10.000 Vorschläge und Ideen ausgewertet. "Wir schauen nach vorn", betonte er. Erfreut werden Besserungen bei den Umfragen registriert, doch über immer noch katastrophale 17 Prozent kommt man bisher nicht hinaus.

SPD will Milliarden verteilen - wer soll das bezahlen?

Das Sozialstaats-Konzept der Parteispitze um SPD-Chefin Nahles sieht nicht nur die Abkehr vom umstrittenen Hartz-IV-System vor. Weitere Elemente sind erweiterte Ansprüche auf das Arbeitslosengeld I sowie eine Kindergrundsicherung. Das von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil vorgelegte Konzept zur Einführung einer Grundrente soll zudem langjährig Versicherten Alterseinkünfte deutlich oberhalb des Niveaus der sozialen Grundsicherung garantieren.

Aber wer soll all die Milliardenpläne für eine bessere Absicherung von Arbeitslosen, Rentnern und Kindern bezahlen? Und schadet es nicht der Glaubwürdigkeit, wenn das meiste nicht umgesetzt werden kann in der großen Koalition?

Union warnt vor "ideologischem Linksruck"

"Es darf keinen ideologischen Linksruck der Regierung geben", sagt CSU-Chef Markus Söder. Und CDU-Vize Volker Bouffier meint: "Die SPD plant die Beerdigung der sozialen Marktwirtschaft". Die Partei sei auf strammem Linkskurs.

Es ist auch der Versuch, die "alte Zeit" hinter sich zu lassen, durch Korrekturen Frieden zu machen mit dem Trauma der Agenda-2010-Reform von Gerhard Schröder. Allerdings warnen wirtschaftsliberale Genossen davor, zu sehr alles wieder zurück zu drehen. Denn die SPD könnte in der Mitte mehr Wähler verlieren, als links gewinnen.

SPD will unbürokratische Kindergrundsicherung

Um langjährige Einzahler vor plötzlicher Altersarmut zu schützen, soll Arbeitslosen, die 58 Jahre alt oder älter sind, mindestens 33 Monate das höhere Arbeitslosengeld I gezahlt werden, bevor es auf Hartz-IV-Niveau (424 Euro Regelsatz im Monat) heruntergeht. Die Sanktionen bei unter 25-Jährigen sollen so gemindert werden, dass sie nicht mehr durch Leistungskürzungen ohne Wohnung dastehen.

Zudem will die SPD das einzelne Beantragen und Leistungsverrechnen etwa bei Kindergeld, Kinderfreibeträgen und Hartz-IV-Zahlungen beenden, und eine unbürokratischere Kindergrundsicherung aus einer Hand anbieten, die vor allem die Kinderarmut mindern soll.

Das "Recht auf Arbeit" will man stärken, durch mehr Qualifizierungsangebote. Um der Digitalisierung besser Rechnung zu tragen, sollen flexible Arbeitsmodelle gestärkt werden, die auch mehr Zeit fürs Kind lassen: durch das Recht auf "Homeoffice", das Arbeiten von zu Hause - bisher sei das erst für zwölf Prozent der Beschäftigten möglich, kritisieren Sozialdemokraten.

Verteilt die SPD nur Geschenke im Wahlkampf?

Allerdings fällt auf, dass ausgerechnet jetzt ein Papier nach dem nächsten vorgelegt wird, als Zeichen der "Erneuerung": Erst eines zu Verbesserungen für die Menschen im Osten (Angleichung Renten und Löhne), nun für eine teilweise Abkehr von bisherigen Hartz-IV-Regelungen. Dazu noch eine Rentenaufstockung um bis zu 447 Euro im Monat für Bürger, die wenig verdient, aber 35 Jahre lang Beiträge gezahlt haben.

Am 26. Mai stehen die Europawahl und die Wahl in Bremen an, wo die SPD erstmals das Rathaus verlieren könnte. Dann folgen noch im September und Oktober Wahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen, wo weitere Debakel drohen.

Ostbeauftragter sieht bei SPD "falschen Ansatz"

Die Union lehnt weitere Milliarden im Sozialbereich bisher ab, zumal die Konjunktur schwächelt und Geld eher für Konjunkturpakete gebraucht werden könnte.

Kritik an Heil Rentenvorschlägen äußerte erneut Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). "Das kann so nicht bleiben", sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Montagsausgaben). Zwar stellte sich Altmaier grundsätzlich hinter die Idee einer Grundrente, die auch im Koalitionsvertrag verankert ist. Er forderte aber, diese nur an bedürftige Rentner zu zahlen. Dies sei für die CDU "elementar", sagte er.

Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christian Hirte, warf der SPD in der "Thüringer Allgemeinen" vor, mit ihrem Sozialstaatskonzept besonders mit Blick auf die neuen Länder "den falschen Ansatz" zu haben.

Kritik an Nahles - reißt die SPD-Chefin das Ruder herum?

SPD-Chefin Nahles wird nun auch daran gemessen werden, was von dem Feuerwerk an Vorschlägen überhaupt umsetzbar sein wird, oder ob ob es nur Blaupausen für eine ferne Zeit sind. Denn das Kanzleramt erscheint derzeit sehr weit weg.

Es ist die vielleicht letzte Chance für Nahles, eine Wende zu erreichen. Führende Genossen schimpfen auf die Medien, auf Ex-Kanzler Gerhard Schröder und Ex-Parteichef Sigmar Gabriel, die zur Treibjagd auf Nahles blasen würden.

Aber auch in den Wahlkreisen und der Bundestagsfraktion ist immer wieder zu hören: Mit Nahles gehe es definitiv nicht weiter, der Niedergang sei mit ihr nicht zu stoppen. Doch der von einigen zum Comeback ermunterte Gabriel zeigt dieser Tage wieder seine Defizite und warum er am Ende als Vorsitzender vor allem an sich selbst scheiterte: Einzel- statt Teamspiel.

Nahles könnte das Konzept Luft verschaffen. Aber gehen die Wahlen schlecht aus, dürften Personalfragen wieder alles überlagern. Eine Mehrheit stand auch schon früher hinter Sozialplänen der SPD, geholfen hat es kaum. Immerhin kann in diesen Tagen keiner mehr sagen, die große Koalition sei ein großer Klumpen, Union und SPD ließen sich nicht mehr unterscheiden. (hub/dpa/afp)

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