Außenministerin Baerbock hat Vorschläge für eine tiefgreifende Reform der Europäischen Union unterbreitet. Eine solche Reform sei nötig, um die Handlungsfähigkeit der EU auch nach dem angestrebten Beitritt weiterer Länder zu erhalten.

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Außenministerin Annalena Baerbock will die Europäische Union (EU) auch angesichts der Kriege in der Ukraine und in Nahost mit tiefgreifenden Reformen geopolitisch zukunftsfest machen. "Gerade jetzt brauchen wir Kraft, gemeinsam gegen diesen Krisenstrudel anzuschwimmen", sagte die Grünen-Politikerin am Donnerstag bei einer Konferenz mit zahlreichen europäischen Außen- und Europaminister zur Erweiterung der EU in Berlin.

Baerbock nannte die EU-Erweiterung eine geopolitische Notwendigkeit. Russlands Präsident Wladimir Putin "wird weiter versuchen, einen imperialen Graben durch Europa zu pflügen, der nicht nur die Ukraine von uns trennen soll, sondern auch Moldau, Georgien und den westlichen Balkan". Würden diese Länder dauerhaft von Russland destabilisiert, "macht es uns alle angreifbar".

Die EU führt Beitrittsverhandlungen auch mit den Balkanstaaten Montenegro, Albanien, Serbien, Bosnien-Herzegowina und Nordmazedonien. Zudem sind neben der Ukraine und Moldau auch noch das Kosovo sowie Georgien und die Türkei Bewerberländer.

Baerbock will mehr Kompetenzen für die EU

Eine erweiterte EU würde allerdings auch die Entscheidungsfindung innerhalb der EU erschweren. Baerbock machte deshalb einige Vorschläge, die die Handlungsfähigkeit der EU erhalten sollen. Diese zielen im Kern darauf ab, dass die einzelnen Mitgliedstaaten in einer erweiterten EU an Einflussmöglichkeiten verlieren, um die Funktionsfähigkeit der Gesamt-Union zu sichern - und sie dürften deshalb auf einigen Widerspruch aus dem Kreis der EU-Länder stoßen.

Im Einzelnen schlug Baerbock vor, dass in einer erweiterten EU mehr Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip gefällt werden; dass EU-Kommission und EU-Parlament auch bei einer Erweiterung nicht größer werden; dass Verstöße von Mitgliedsstaaten etwa bei der Rechtsstaatlichkeit schneller geahndet werden; und dass beitrittswillige Staaten früher in EU-Entscheidungsprozesse eingebunden werden.

In einer erweiterten EU müsse etwa das Einstimmigkeitsprinzip in wichtigen Fragen, etwa der Finanz- und Außenpolitik, zugunsten von Mehrheitsentscheidungen aufgegeben werden, sagte Baerbock. "Es ist einfach politische Mathematik, dass in einer EU mit mehr als 36 Vetos das Blockaderisiko irgendwann unbeherrschbar wird."

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Gelbe und rote Karten für Mitgliedsländer

Eine solche Reform würde dazu führen, dass einzelne Mitgliedsstaaten leichter überstimmt werden könnten. Dazu unterbreitete Baerbock einen Vorschlag: "Wenn Mitgliedstaaten befürchten, in ihrem Kerninteresse überstimmt zu werden, dann könnten sie die Möglichkeit bekommen, eine Gelbe Karte zu ziehen, damit weiter verhandelt und nach Kompromissen gesucht wird", sagte Baerbock. "Rote Karten, also Vetos, sollen nur für ganz wenige Ausnahmefälle gelten."

Für den Fall einer EU-Erweiterung schlug Baerbock zudem eine Abkehr von dem Prinzip vor, dass jeder Mitgliedsstaat einen Posten in der EU-Kommission besetzen dürfe. Dies könne dann etwa auch für Deutschland heißen, "dass wir sagen, wir sind bereit, zeitweise auf einen Kommissar oder eine Kommissarin zu verzichten".

Baerbock will zudem mehr finanziellen Druck aus Brüssel auf jene Staaten ermöglichen, die sich nicht an die rechtsstaatlichen Standards der Union halten. Bislang dauerten solche Verfahren zu lange. "Wir müssen deshalb zeitnah Maßnahmen ergreifen können, falls ein Mitgliedstaat wiederholt unsere gemeinsamen Werte verletzt."

Auch Beitrittskandidaten sollen an Reformprozess mitwirken

Für die geplante Aufnahme neuer EU-Mitglieder schlug Baerbock eine "schrittweise Integration" vor. Beitrittswillige Staaten, die bei der Umsetzung der Beitrittsbedingungen Fortschritte machen, sollten künftig als Beobachter zu den Ratssitzungen in Brüssel eingeladen werden. "Dann sind sie mit dabei, wenn wir über unsere gemeinsame Zukunft entscheiden", sagte Baerbock.

Außerdem solle insbesondere jungen Menschen ermöglicht werden, an den Vorteilen der EU beteiligt zu sein, noch bevor ihr Land Vollmitglied sei. Studienprogramme etwa über Erasmus-Stipendien sollten ausgeweitet werden. Länder, die einzelne Kapitel im Beitrittsverfahren abgeschlossen hätten, könnten als Beobachter zu den entsprechenden Ratssitzungen nach Brüssel eingeladen werden.

Es dürfe aber keine "Rosinenpickerei" und keine Abstriche am Wertefundament der EU geben, warnte Baerbock. "Rabatte oder Abkürzungen wird es im Beitrittsprozess nicht geben, schon gar nicht im Bereich des Rechtsstaats." Wo es aber Fortschritte gebe, müssten diese "sichtbar und fühlbar" honoriert werden.

Klares Signal an Ukraine

Mit Blick auf die Ukraine und deren anwesenden Außenminister Dmytro Kuleba betonte Baerbock: "Wir wollen die Ukraine als Mitglied unserer Europäischen Union. Und ich bin überzeugt, dass auch der Europäische Rat im Dezember dieses Signal geben wird."

Der ukrainische Außenminister warnte vor Frustrationen im Beitrittsprozess, wie es sie auch auf dem Westbalkan gegeben habe. Er betonte: "Als EU-Mitglied wird die Ukraine mehr Sicherheit für Europa bedeuten und nicht weniger. Wir werden keine Last sein für sie." (dpa/afp/lko)

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