• Aserbaidschan und die Türkei siegen gegen Armenien im Berg-Karabach-Konflikt.
  • Der Westen hat die Lage falsch eingeschätzt und ist mit anderen Problemen beschäftigt.
  • Innenpolitische Spannungen in Aserbaidschan und der Türkei gelten als Ursache für den Krieg gegen den ältesten christlichen Staat.
Dr. Wolfram Weimer
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht des Autors dar. Hier finden Sie Informationen dazu, wie wir mit Meinungen in Texten umgehen.

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Die Türkei und Aserbaidschan gewinnen einen Überfallkrieg gegen Armenien. Ein islamischer Zangengriff soll den ältesten christlichen Staat der Welt treffen. Die beiden Despoten Erdogan und Alijew jubeln. Der Westen schaut weg.

Der Zeitpunkt war geschickt gewählt: Der Überfall auf Armenien startete just in dem Moment, als die USA und Europa akut anderweitig beschäftigt waren. Amerika versank mit der Trump-Abwahl für einige Wochen in sich selbst, und Europa steckte in der zweiten Welle der Corona-Pandemie. Für einen schnellen, schmutzigen Krieg im Kaukasus der perfekte Zeitpunkt, also schlugen die verbündeten Despoten Recep Tayyip Erdogan und Ilham Alijew zu.

Das ölreiche Aserbaidschan marschierte mit massiver Unterstützung der Türkei ein - flankiert von eigens angeheuerten islamistischen Söldnern aus Syrien, deren Brutalität im ganzen Nahen Osten gefürchtet ist. Das winzige Armenien hatte gegen die militärische Übermacht keine Chance, auch weil die Aserbaidschaner mit modernsten Drohnenwaffen ausgestattet waren und brutal vorgingen.

Michelle Bachelet: "Kriegsverbrechen zu befürchten"

Menschenrechtsorganisationen berichten von Streubomben gegen die Zivilbevölkerung, von gezielten Angriffen auf Krankenhäuser und Kirchen, weil sie christliche Kreuze trugen. Kriegsgefangene Armenier sollen gefoltert und dabei gefilmt worden sein. Bei der OSZE und der UNO werden derzeit Berichte von Enthauptungen von Soldaten und Verstümmelung von Leichen geprüft. Videos von Hinrichtungen haben die Hohe Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Michelle Bachelet, zu einem Alarmruf veranlasst: Kriegsverbrechen seien zu befürchten.

Für die Türkei und Aserbaidschan handelt es sich bei der Eroberung von Berg-Karabach um einen islamischen Befreiungskampf gegen das christliche Armenien. Man müsse die Region "von den Ungläubigen befreien", hat Erdogan den Religionskrieg ausgerufen. Das kleine Armenien - ein Staat von der Größe Brandenburgs - liegt wie ein christlicher Riegel zwischen beiden muslimischen Bruderstaaten, die der offiziellen Losung "Eine Nation, zwei Staaten" huldigen. Für Armenien kehrt damit ein historischer Alptraum zurück, denn die Armenier waren vor genau 100 Jahren schon einmal ungeschütztes Opfer des türkischen Völkermords.

Heiko Maas schätzte Lage falsch ein

Armenien hat in den vergangenen Wochen verzweifelt um Hilfe in Europa und Amerika gefleht. Doch der Westen war mit Wahlen und Corona beschäftigt, blieb stumm und schaute weg. Noch am 29. Oktober meinte Außenminister Heiko Maas im Bundestag: "Eine militärische Lösung des schon lange andauernden Konfliktes wird von der internationalen Staatengemeinschaft nicht akzeptiert werden. Eine bessere Verhandlungsposition lässt sich nicht auf dem Schlachtfeld erringen." Eine groteske Fehleinschätzung, denn genau das ist nun passiert.

Nur Russland kam Armenien halbherzig zur Hilfe, erzwang wenigstens den jetzigen Waffenstillstand und schickt nun Friedens-Schutztruppen an die Front. Wladimir Putin zeigt sich der Weltöffentlichkeit abermals als Ordnungsmacht und entlarvt zugleich die eklatante Schwäche des Westens.

Innenpolitische Spannungen in Aserbaidschan und der Türkei als Ursache für Krieg

Armenien aber ist der große Verlierer des Krieges, der gezielt im Schatten der Pandemie geführt wurde. Erdogan und Alijew werden den militärischen Sieg nun innenpolitisch für ihre Machtpropaganda ausschlachten. Für beide war der Krieg nämlich auch eine Gelegenheit, von inneren Spannungen und Problemen abzulenken: Erdogan kämpft mit einer schweren Wirtschafts- und Währungskrise, Alijew verliert mit dem gefallenen Ölpreis die Möglichkeit, innere Konflikte mit Geld zu lösen. In beiden Ländern wachsen soziale Spannungen und der politische Druck von Islamisten.

Armenien ist für beide damit ein dankbares Opfer. Sowohl Erdogan als auch Alijew befeuern den Krieg im Namen Allahs, um ihre eigene Macht zu retten. Der türkische Parlamentspräsident Mustafa Sentop rief in der Hauptstadt Baku Alijew zu: "Möge Allah Sie segnen und Ihnen den Sieg gewähren." Armenien zu besiegen und erniedrigen, hat für beide eine große symbolische Bedeutung - schließlich erklärte Armenien bereits im Jahr 301 das Christentum zur Staatsreligion und wurde so der erste christliche Staat der Welt überhaupt.

Armenien schon zum zweiten Mal Opfer einer ethnischen Säuberung

Und so gehen nun erschütternde Bilder um die Welt, wie verwundete Armenierfamilien letzte Gottesdienste in Kirchen und Klöstern aus dem 4. Jahrhundert feiern und verzweifelt ihre Dörfer räumen. Viele fackeln ihre Häuser ab, um sie den muslimischen Besatzern nicht nutzbar zu überlassen. Es wird eine ethnische Säuberung größeren Stils gestartet.

Ausgerechnet verübt an einem Volk, das vor 100 Jahren den ersten systematischen Genozid des 20. Jahrhunderts zu erleiden hatte. Bei Massakern und Todesmärschen der Jahre 1915 und 1916 trieben die Türken mehr als eine Million Menschen in den Tod, nur weil sie Christen waren. Die Armenier wurden so Opfer einer türkischen Vertreibungs- und Vernichtungspolitik, die nun fortgesetzt wird.

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