In Deutschland gingen in den ersten Monaten des Jahres hunderttausende Menschen bei Demonstrationen und Streiks auf die Straße. Lange hieß es, Deutschland sei kein Protest-Land, nun scheint sich das zu ändern.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lukas Weyell sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

"Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas. Wenn die Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich vorher noch eine Bahnsteigkarte", dieses Zitat wird dem russischen Revolutionär Lenin zugeschrieben. In den vergangenen Jahrzehnten schien das die deutsche Protestkultur gut zu beschreiben, doch die ersten Wochen dieses Jahres zeichnen ein anderes Bild.

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Zunächst riefen die Bauern-Proteste gegen das Ende der Subventionen durch die Bundesregierung zahlreiche Landwirte samt Trecker auf den Plan. Bei den Demonstrationen mischten sich rechtsextreme Aktivisten unter die Protestierenden. Teilweise wurden rechtsextreme Parolen verbreitet und Galgen gezeigt. Dann kam es zu zahlreichen Streiks – erst die Lokführer der GDL, dann der öffentliche Nahverkehr. Zuletzt gingen Hunderttausende wegen den veröffentlichten Plänen der AfD, Migranten zu deportieren, auf die Straße. Hat sich die deutsche Protestkultur gewandelt?

Mehr Menschen auf der Straße als in den Jahren zuvor

Unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Potsdamer Geheimtreffens demonstrierten laut Angaben des Bundesinnenministeriums allein am dritten Januarwochenende 2024 bundesweit mehr als 910.000 Menschen. Das gab es so noch nie: Selbst bei der Unteilbar-Demo gegen Rechtsextremismus 2018 kamen "nur" rund 240.000 Menschen zusammen. Im Dezember 1992 bei der Lichterketten-Demo in München waren es rund eine halbe Million.

Der Protestforscher Daniel Mullis vom Peace Research Institute Frankfurt spricht gegenüber unserer Redaktion bezüglich der Teilnehmeranzahl bei den jüngsten Demonstrationen gegen die AfD und für Demokratie sogar von "herausragenden Zahlen in der deutschen Protestgeschichte".

Dieses politische Engagement ist überraschend. Seit Jahren nehmen die Mitgliederzahlen politischer Parteien ab und es ist von einer Demokratiemüdigkeit die Rede. Zuletzt hatte die Leipziger Autoritarismus-Studie von 2022 ergeben, dass 66 Prozent der Deutschen es für sinnlos halten, sich politisch zu engagieren. 75 Prozent hätten demnach das Gefühl, dass sie keinen Einfluss darauf haben, was die Regierung tut. Trotzdem gehen nun offenbar viele von ihnen auf die Straße.

"Wenn man aber das Protestgeschehen als Ganzes anschaut, ist es zivilisierter geworden."

Daniel Mullis, Protestforscher

Protestforscher Mullis ist der Meinung, dass "das, was heute an Protesten läuft, absolut im Rahmen eines demokratischen Protestes passiert". Verglichen mit dem Protest der 1968er oder den Häuserbesetzern in den 1980ern-Jahren etwa gehe es heute vergleichsweise geordnet zu. Während der wilden Studentenproteste der 1960-Jahre kam es zu Straßenschlachten zwischen Polizei und Demonstranten, bei denen es auch Verletzte und Tote gab – etwa der Student Benno Ohnesorg, der von einem Polizisten erschossen wurde und dessen Tod als Geburtsstunde der RAF gesehen wird.

Eine Ausnahme bildeten die Blockaden von Grünen-Politikern etwa durch Bauern wie bei Wirtschaftsminister Robert Habeck Anfang des Jahres geschehen oder zuletzt in Biberach beim Auftritt von Grünen-Chefin Ricarda Lang und Agrarminister Cem Özdemir. Von linker Seite seien die Ausschreitungen beim G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 zu nennen und die Krawalle in Hamburg während des Treffens der G20 2017. "Wenn man aber das Protestgeschehen als Ganzes anschaut, ist es zivilisierter geworden."

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Noch nicht absehbar wie sich Demonstrationen auf Politik auswirken

In welche Richtung sich der politische Protest derweil entwickle, sei laut Wissenschaftler Mullis unklar: Es seien zwar sehr viele Menschen engagiert für die Demokratie. Allerdings sei es noch eine relativ kurze Zeit in der diese Menschen auf die Straße gingen. Ob der Protest langfristig erfolgreich ist, werde nicht durch die schiere Masse der Menschen entschieden, sondern aus der Frage, ob sich daraus langfristig etwas entwickelt.

Die große Anzahl an Menschen sei laut Mullis ein Indiz dafür, wie bedrohlich die Rechte aktuell wahrgenommen wird. Es sei in den vergangenen Jahren ein permanentes rechtes Rauschen entstanden, welches viele als normal abgetan hätten – gerade in der gemäßigten Rechten und bei den Konservativen. Nun trete die demokratische Mitte auf die Straße, die bisher in den Hintergrund geraten war. "Viele Menschen realisieren nun, dass die Gefahr durch die AfD real ist und eine AfD-Regierung Auswirkungen auf unser Leben haben würde."

Klimaproteste vereinen sich mit anti-AfD-Demos und Streiks

Bei den Protesten gegen die AfD sei aber noch nicht klar, welche Demokratie diese eigentlich wollten. Vereinen würde die Demonstranten der Wunsch, das bestehende System zu schützen. So kämen hier ganz unterschiedliche Strömungen zusammen, etwa die Klima-Aktivisten von Fridays for Future und alteingesessene Gewerkschaften wie ver.di. Das führt auch zu Solidaritätsaktionen bei Streiks: In Berlin schlossen sich so etwa in der aktuellen Woche Klima-Aktivisten von Fridays for Future mit den Streikenden der Berliner Verkehrsbetriebe zusammen und planen eine gemeinsame Protestaktion für den 1. März.

Bei den aktuellen Protesten sei es so, dass sich der Schutz der Demokratie mit den Klima-Protesten kombiniert habe, so Mullis. Das hat auch mit einem Wiedererwachen der Protestkultur zu tun. Zwar habe es während der Pandemie in den vergangenen Jahren starke Proteste etwa von der Querdenker-Bewegung gegen die Maßnahmen der Regierung gegeben, aber die progressiven Kräfte hätten pausiert, so Mullis: "Die Corona-Pandemie hatte zunächst die Protestkultur unterbunden, nun ist es so, dass viele Bewegungen seit einigen Monaten wieder zu ihrer alten Organisationsform zurückkehren."

Über den Gesprächspartner

  • Daniel Mullis ist Vorsitzender des Forschungsrats des Peace Research Institute Frankfurt und Leiter des DFG-Projektes "Alltägliche politische Subjektivierung und das Erstarken regressiver Politiken"

Verwendete Quellen

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