• Das Bündnis "Gerechtigkeit Jetzt!" ruft in Berlin zu Aktionen für "radikalen Wandel" auf – mit Demonstrationen, Diskussionen und zivilem Ungehorsam.
  • Zu den Partnern gehören unter anderem "Fridays for Future" und "Deutsche Wohnen & Co enteignen", aber auch umstrittene Gruppen wie "Extinction Rebellion".
  • Von der Politik erwarten die Aktivisten entschiedene Maßnahmen für Klimaschutz oder soziale Gerechtigkeit – und zeigen sich gleichzeitig ernüchtert. Eine Aktivistin sagt: "Wir müssen das alles selber machen."

Mehr aktuelle News finden Sie hier

Demonstrationen gehören in Berlin zum Hauptstadt-Alltag. Doch in den kommenden Tagen soll es besonders laut und vielleicht auch unbequem werden: Das Bündnis "Gerechtigkeit Jetzt!" ruft bis zum 29. Oktober zu Aktionstagen für einen "radikalen Wandel" auf. Geplant sind Demonstrationen, Workshops, Vorträge – und "ziviler Ungehorsam".

Was genau darunter zu verstehen ist, sagt Ronja Weil, Sprecherin des Bündnisses, nicht. Nur so viel: "Wir werden an Orte der Verhandlungen und der Zerstörung gehen und sie zum Teil lahmlegen und uns in den Weg stellen."

Zum Bündnis gehören 33 Organisationen und Initiativen: Dabei sind unter anderem die Klimaschutzbewegung "Fridays for Future", die Seenotretter von "Sea Watch", das globalisierungskritische Netzwerk Attac oder die Initiative "Deutsche Wohnen & Co enteignen".

Vor der Regierungsbildung: Druck auf Ampel-Parteien

"Wir stehen zusammen gegen den spalterischen Neoliberalismus der Ampel", sagt Ronja Weil am Donnerstag bei einer Pressekonferenz auf dem Berliner Messegelände. Der Ort ist nicht zufällig gewählt: Dort verhandeln SPD, Grüne und FDP über die Bildung einer sogenannten Ampel-Koalition auf Bundesebene.

Die Aktivistinnen und Aktivisten wollen Druck ausüben auf die Verhandelnden. Noch ist über die Pläne einer möglichen Ampel-Regierung nur das bekannt, was im eher vagen Sondierungspapier steht. Die dort aufgeführten Pläne aber reichen dem Bündnis nicht. Das Papier enthalte keine wirksamen Maßnahmen gegen steigende Mieten, gegen soziale Ungleichheit oder die globale Klimaerwärmung, lautet die Kritik. "Die Koalierenden haben keine Antworten auf die Gerechtigkeitskrisen unserer Zeit", sagt Weil.

"Fridays for Future" kritisieren Sondierungspapier

Besonders die Grünen dürften den Druck zu spüren bekommen. Sie waren mit dem Versprechen eines konsequenten Klimaschutzes in den Wahlkampf gezogen. Das Sondierungspapier lässt zumindest bei vielen Aktivisten Wünsche offen. Die Grüne Jugend hat sich bereits geäußert. "Im bisherigen Verhandlungsstand der Ampel kommt der Klimaschutz zu kurz", schrieb die Nachwuchsorganisation von Bündnis 90/Die Grünen auf Twitter.

Auch die Bewegung "Fridays for Future" hat das Sondierungspapier kritisiert. Für die Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad fordert sie unter anderem ein Ende der Energiegewinnung aus Kohle und Erdgas und einen sofortigen Neu- und Ausbaustopp für Autobahnen und Bundesstraßen.

Carla Reemtsma, eine der führenden Aktivistinnen von "Fridays for Future", kritisiert das Sondierungspapier der Ampel-Parteien auch am Donnerstag deutlich: "Die Kluft zwischen der katastrophalen Klimakrisenrealität und unzureichenden Klimaschutzmaßnahmen könnte nicht größer sein."

2020 wurde in Berlin so viel demonstriert wie nie

Deutschland hat in den vergangenen Jahren eine Protest- und Demonstrationswelle erlebt. Das gilt zumindest für die Hauptstadt. "In Berlin ist die Zahl der angemeldeten Demonstrationen in den vergangenen Jahren gestiegen. Zwischen 2008 und 2020 hat sie sich verdoppelt", sagt der Protestforscher Dieter Rucht im Gespräch mit unserer Redaktion. 2020 waren in Berlin mehr als 5800 Aufzüge und Versammlungen, also Demonstrationen, angemeldet. Ein historischer Höchststand.

Die große Demonstrationsfreude gerade im Klimabereich bedeutet allerdings nicht, dass die Protestierenden damit besonders viel erreicht hätten. "Bei Fridays for Future wird das Problem so beschrieben: Die Maßnahmen, die die Politik bisher zur Bekämpfung des Klimawandels ergriffen hat, werden nach Ansicht der Fachleute nicht reichen", sagt Protestforscher Rucht.

"Härtere Aktionsformen" auch bei "Fridays for Future" denkbar

"Interessant ist, was mit einer Bewegung wie Fridays for Future in der Zukunft passieren wird, ob auch die sich offensiver oder radikaler gebärden wird", sagt Dieter Rucht. "Eine bloße Fortsetzung des Kurses wird irgendwann nur noch wenig bringen, weil sich die Medien dafür immer weniger interessieren werden."

Der Protest müsste dann kreativere Formen annehmen, um noch Aufmerksamkeit zu erlangen, sagt Rucht. Möglich ist aber auch, dass die Bewegung auf härtere Aktionsformen zurückgreift. Ein solcher Schritt sei durchaus denkbar. "Allerdings wäre es wohl eher eine Radikalisierung mit Handbremse. Die Bewegung würde sich kaum offen dazu bekennen."

Auch umstrittene Gruppen dabei

Für die Aktionstage in Berlin schließen sich Fridays for Future nun mit Organisationen zusammen, die auch auf zivilen Ungehorsam oder illegale Aktionen setzen. "Extinction Rebellion" zum Beispiel blockiert immer wieder Verkehrswege, um Klimawandel und Artensterben anzuprangern. Im vergangenen August bespritzten Aktivistinnen und Aktivisten die CDU-Parteizentrale mit Kunstblut und besetzten die Straße am Landwirtschaftsministerium.

Die Organisation ist nicht zuletzt wegen Äußerungen ihres britischen Mitbegründers Roger Hallam umstritten. Ihm wird unter anderem vorgeworfen, den Holocaust relativiert zu haben. In einem Interview mit dem "Spiegel" sagte er 2019 zudem, Umweltschutz seit "größer als die Demokratie": "Wenn eine Gesellschaft so unmoralisch handelt, wird Demokratie irrelevant. Dann kann es nur noch direkte Aktionen geben, die das stoppen.”

Auch die Interventionistische Linke, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird, ist Teil des Bündnisses. Genau wie "Ende Gelände": Dieser europaweite Zusammenschluss lehnt Gewalt ab, setzt sich aber ebenfalls bisweilen über Regeln und Gesetze hinweg, um Klimaschutz "selbst in die Hand zu nehmen".

Wenig Hoffnung auf Politik

Dieses Selbstverständnis eint viele der 33 Gruppen des Bündnisses: Sie pochen einerseits auf radikale Maßnahmen der Politik. Sie betonen aber gleichzeitig, dass sie von der Politik nicht mehr viel erwarten.

So zum Beispiel auch das "Berliner Bündnis gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn". Dessen Mitglieder fordern einen bundesweiten Mietendeckel und das Verbot von Zwangsräumungen. Ebenfalls Punkte, die im Koalitionsvertrag einer Ampel-Regierung wohl nicht auftauchen werden. "Wir müssen das alles selber machen", sagt Valentina Hauser am Donnerstag auf der Pressekonferenz. Leerstehende Häuser zu besetzen, um Obdachlose dort wohnen zu lassen, sei zum Beispiel ein möglicher Weg.

Starten sollen die Aktionstage am Freitag aber mit einer "klassischen" Demonstration: Am Freitag will "Fridays for Future" rund 10.000 Menschen aus dem ganzen Bundesgebiet für einen Klimastreik im Regierungsviertel mobilisieren.

Über den Experten: Prof. Dr. Dieter Rucht ist Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Er beschäftigt sich unter anderem mit sozialen Bewegungen und politischem Protest. Von 2012 bis 2020 war er Vorstandsmitglied im Institut für Protest- und Bewegungsforschung.

Quellen:

  • Pressekonferenz von "Gerechtigkeit Jetzt!"
  • Gespräch mit Prof. Dr. Dieter Rucht, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
  • Deutsche Presse-Agentur
  • Webseite von "Gerechtigkeit Jetzt!"

Ständchen für das Klima: Greta Thunberg covert 80er-Jahre-Hit

Greta Thunberg überraschte am Samstag die Besucher des "Climate Live"-Konzertes in Stockholm mit einer Gesangseinlage. Die Klimaaktivistin schmetterte vor der Menge den 80er-Jahre-Hit "Never Gonna Give You Up" von Rick Astley.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.