Bei der ersten Runde der türkischen Präsidentschaftswahl stimmten 65,4 Prozent der Deutsch-Türken für Recep Tayyip Erdogan. Damit scheint der amtierende Präsident in Deutschland mehr Unterstützer zu haben als in der Türkei. Ein Integrations-Experte widerspricht.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lukas Weyell sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es hat für viele Beobachter für Verwunderung gesorgt: Beim ersten Wahlgang der türkischen Präsidentschaftswahlen am Sonntag vor zwei Wochen haben 65,4 Prozent der Deutsch-Türken für den autokratischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gestimmt. Damit hat der amtierende Präsident der Türkei in Deutschland mehr Unterstützung erhalten als in der Türkei selbst. Insgesamt verfehlte Erdogan bei der Wahl mit 49,42 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit und muss am 28. Mai in einer Stichwahl gegen Herausforderer Kemal Kilicdaroglu antreten.

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Auch innerhalb der deutschtürkischen Community gab es Unterschiede bei den Wahlergebnissen. Die türkische Wahlbehörde teilte mit: In Essen war die Zustimmung für Erdogan am größten mit 77,64 Prozent der Stimmen, in Berlin am niedrigsten, hier holte er lediglich 49,17 Prozent. Trotzdem auffallend: Nirgendwo lag Herausforderer Kilicdaroglu vorne. Insgesamt gingen ungefähr die Hälfte der wahlberechtigten türkischen Staatsbürger in Deutschland zur Wahl.

In Schweden und den USA mehr Stimmen für Gegenkandidat Kilicdaroglu

Insgesamt leben im Ausland knapp 3,5 Millionen wahlberechtigte Türken. In Deutschland sind es knapp 1,5 Millionen Türken und Deutsch-Türken im wahlfähigen Alter. Sie konnten in der Woche vor dem Wahlsonntag abstimmen und sind durch ihre schiere Anzahl ein wichtiger Faktor bei jeder Präsidentschaftswahl in der Türkei. Bei den vergangenen Wahlen stimmten die Deutsch-Türken mehrheitlich Erdogan-freundlich ab.

Auch in anderen Ländern stimmte die türkische Diaspora mehrheitlich für den Amtsinhaber: In Frankreich stimmten 64,2 Prozent der Türken für Erdogan, in Österreich waren es sogar 71,9 Prozent, in den Niederlanden 68,4 Prozent. Lediglich in den USA und Schweden konnte Erdogans Gegenkandidat Kemal Kilicdaroglu mehr Stimmen auf sich vereinen als Erdogan.

Experte: Wahlen haben keine Aussagekraft über Integration

Warum stimmen türkische Wähler gerade im europäischen Ausland, wo sie Demokratie und Meinungsfreiheit genießen, für den autokratisch regierenden Erdogan? Lassen sich daraus Rückschlüsse auf die Integration der Menschen in Deutschland ziehen?

Özgür Özvatan ist Politischer Soziologe und forscht an der Humboldt-Universität Berlin unter anderem zu Integrationsthemen. Gegenüber unserer Redaktion verneint er Letzteres: "Von dem Wahlergebnis lässt sich keine Erkenntnis über eine vermeintliche Integration der deutsch-türkischen Community ablesen. Die Integrationsfrage stellt sich überhaupt nicht, wenn dann eine Frage nach transnationalen Wahlpräferenzen."

So gebe es viele Faktoren, die in das Ergebnis mit hineinspielten und längst nicht alle seien auf Erdogans Beliebtheit zurückzuführen. Die Frage sei auch eher kontraproduktiv, da sie viele Deutsch-Türken entfremden würde. Vergleichbare Diskriminierungserfahrungen seien hingegen durchaus ein Faktor beim Wahlergebnis. Diese würde viele Deutsch-Türken in die Arme von Erdogan treiben, sagt Özvatan.

Angst vor Repressionen in der Türkei

Weiter sei die Annahme falsch, dass eine Mehrheit der Deutsch-Türken für Erdogan gestimmt habe. Zwar sei die prozentuale Zustimmung zu Erdogan in Deutschland höher als in der Türkei, allerdings seien nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten in Deutschland zur Wahl gegangen. Auch seien längst nicht alle Mitglieder der türkischen Diaspora in Deutschland wahlberechtigt: "Es gibt auch Exil-Türken, die in der Türkei nicht mehr wahlberechtigt sind – oft auch aus politischen Gründen, weil sie eben gegen Erdogan sind", sagt Özvatan.

Das habe oft auch praktische Hintergründe: Deutsch-Türken mit türkischem Pass könnten in der Türkei Repressionen erwarten, weshalb viele Oppositionelle keinen türkischen Pass mehr besäßen. Allein mit deutscher Staatsangehörigkeit könnten sie leichter in die Türkei ein- und ausreisen und müssten nicht fürchten, verhaftet zu werden.

AKP ist in Deutschland besser organisiert als die Opposition

Außerdem sei die AKP in Deutschland besser organisiert als die Opposition. Die Partei von Präsident Erdogan hatte im Vorfeld der Wahl in Deutschland geworben – oftmals verdeckt. Die Moscheen-Dachorganisation DITIB hatte unter anderem Busse organisiert, die Wähler zu den Wahlkabinen gefahren hat. DITIB wird oft als verlängerter Arm der AKP bezeichnet.

Vergleichbare Mittel fehlten der Opposition. Eine Kampagne wurde in Deutschland gar nicht erst versucht: "Wir haben keinen öffentlichkeitswirksamen Wahlkampf der Opposition in Deutschland erlebt. Es gab auch keine Ansprache von der Türkei aus nach Deutschland", sagt Özvatan.

Welchen Einfluss hat Mesut Özil auf Wahlentscheidungen in Deutschland?

Die Wahlwerbung durch den ehemaligen deutschen Fußball-Nationalspieler Mesut Özil hält der Forscher hingegen für wenig relevant. Özil hatte ebenso wie 2018 im Vorfeld der Wahl ein Foto von sich zusammen mit Präsidenten Erdogan auf seinem Twitter-Account veröffentlicht. 2018 hatte die Veröffentlichung zu einem Eklat und Özils Rückzug aus der Nationalmannschaft geführt.

"Die Sichtbarkeit von Mesut Özil hat gerade in Deutschland in den vergangenen Jahren stark nachgelassen. Er besitzt nicht mehr die Relevanz, die er 2018 hatte, als er Nationalspieler war und in der englischen Premier League gespielt hat", erklärt Özvatan.

Er spiele nun seit einiger Zeit in der Türkei und sei dort sportlich weniger erfolgreich. Erst im März hatte Özil erklärt, seine Karriere zu beenden. Letztlich sei es eben ein Sportler, der einen Politiker unterstützt, mehr könne man laut Özvatan nicht in Özils Tweet hineininterpretieren.

Über den Experten:
Özgür Özvatan ist Politischer Soziologe mit besonderem Fokus auf Gesellschaftsforschung, speziell Integrations-, Extremismus-, Umwelt- und Demokratieforschung. Er ist Stellvertretender Abteilungsleiter im Lehrbereich Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik der Humboldt-Universität Berlin.
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