Der Streit über das Iran-Abkommen und das Verhältnis zu Russland haben einmal mehr gezeigt: Die 28 Mitgliedsstaaten der EU fahren außenpolitisch keine einheitliche Linie. Schaffen Mehrheitsentscheide Abhilfe? "Ein Einfach-So-Dagegen-Sein gäbe es dann nicht mehr, die Staaten müssten kompromissfähiger sein", sagt Politikwissenschaftler Prof. Dr. Andreas Maurer. Dagegen spricht der europäische Ur-Gedanke beim Blick auf militärische Krisen..

Ein Interview

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Im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" sagte der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn in Bezug auf die EU: "Wenn sich das weiter so entwickelt, dann werden wir außenpolitisch zum Zwerg." Was genau meint er damit?

Prof. Dr. Andreas Maurer: Wenn kein Beschluss des Europäischen Rates der Regierungschefs vorliegt, dann kann der Ministerrat – der aus allen europäischen Außenministern besteht – über die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nur einstimmig entscheiden. Eine Entscheidung mittels qualifizierter Mehrheit ist nämlich nur dann möglich, wenn es vorab zu diesem Thema einen strategischen Beschluss des Europäischen Rates gegeben hat. In der Welt gibt es aber immer mehr Themen und Konflikte, bei denen erwartet wird, dass die Europäische Union sich eindeutig und schnell äußert. Aktuell beispielsweise in der Auseinandersetzung über das Iran-Abkommen oder das Verhältnis zu Russland. Bei 28 Mitgliedsstaaten herrscht jedoch oft die Situation vor, dass aufgrund unterschiedlicher außenpolitischer Interessenslagen mindestens ein Staat einen solchen einstimmigen Beschluss nicht mittragen kann. Dann hat die EU gegenüber Dritten in der Welt keine Stimme, sie wird schlicht und einfach nicht gehört. Nicht, weil sie klein, leise oder dumm ist - sondern, weil sie sich nicht äußern kann.

Das Problem ist nicht neu.

Nein, das Thema beschäftigt uns seit dem Maastrichter Vertrag, also seitdem die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik eine Vertragsgrundlage hat. Diese stellte sich zunächst so dar, dass pauschal alles nur einstimmig entschieden werden konnte. Das wurde aber zu einem großen Problem, sodass man sich angesichts der Erweiterung der EU um die Staaten Ost- und Mitteleuropas im Vertrag von Nizza im Jahr 2000 darauf verständigt hat, dass es die Möglichkeit geben sollte, sich konstruktiv zu enthalten. Wenn ein Staat einen Beschluss nicht mittragen kann, können so zumindest die Willigen voranschreiten.

Als Konsequenz fordert Asselborn, in außenpolitischen Fragen den Zwang zur Einstimmigkeit aufzugeben und stattdessen mit Mehrheitsentscheidungen zu arbeiten. Wie würde das konkret aussehen?

In anderen Bereichen gibt es bereits Mehrheitsentscheidungen. Dort ist es aber so, dass in 80 bis 85 Prozent der Fälle, in denen laut Vertrag mit Mehrheit entschieden werden könnte, die Minister im Ministerrat trotzdem einstimmig beschließen. Das Prinzip der Mehrheitsentscheidung wird nicht angewendet wie im Parlament, wo pausenlos abgestimmt wird. Sondern: Die Möglichkeit der Mehrheitsentscheidung wirkt vielmehr wie ein Damoklesschwert, was über dem Ministerrat hängt und die Drohung darstellt: "Wenn ihr euch nicht im Konsens einigt, dann stimmen wir am Ende ab". Dramatisch hat dies vor zwei Jahren bei der Flüchtlingsquote Einsatz gefunden, das ist aber sehr selten. Gäbe es diese Möglichkeit auch in der Außen- und Sicherheitspolitik, dann hieße das: Die Minister streiten mit dem Ziel, sich am Ende auf einen Kompromiss zu einigen, der einstimmig verabschiedet werden kann. Sollte es nach einer gewissen Dauer der Verhandlungen immer noch keinen Kompromiss geben, hätte der Vorsitzende die Möglichkeit, eine Entscheidung zu erzwingen.

Mit diesem Vorstoß ist Asselborn nicht allein. Auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Außenminister Heiko Maas haben sich in der Vergangenheit ähnlich geäußert. Was spricht dafür?

Steht nur das Einstimmigkeitsprinzip im Vertrag, dann ist es für einen Mitgliedsstaat leicht, die Haltung einzunehmen: "Das interessiert mich alles nicht, ich bin dagegen und muss mich auch nicht kompromissfähig zeigen." Mit der Möglichkeit der Mehrheitsentscheidung und dem Damoklesschwert, das jederzeit fallen kann, müssen sich die Staaten hingegen kompromissfähig zeigen und darlegen, warum sie einen Beschluss nicht mittragen wollen und unter welchen Bedingungen sie dies tun würden. Im Gegensatz zum Einstimmigkeitsprinzip müssen Staaten also verhandlungsfähig werden. Das fällt vielen Staaten erst einmal schwer. Die Ausgangssituation und die Art des Miteinanders würden sich somit ändern. Ein "Einfach-Dagegen-Sein" gäbe es so nicht mehr.

Noch vor Kurzem bezeichnete Asselborn die Forderung nach Mehrheitsentscheidungen in der EU-Außenpolitik als unrealistisch. Damals sagte er: "Ich bezweifele sehr, dass die Abkehr von der bisher nötigen Einstimmigkeit wirklich mehr Einheit erzwingen kann" und ergänzte, man könne von den EU-Staaten keine Solidarität für außenpolitische Positionen der EU einfordern. Gibt es weitere Gründe, die dagegen sprechen, den Zwang zur Einstimmigkeit aufzugeben?

Gegenwärtig haben wir die Situation, dass die Außen- und Sicherheitspolitik der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes vollkommen entzogen ist. Das heißt: Anders als im Binnenmarkt oder der Währungsunion gibt es bei Beschlüssen in der Außenpolitik überhaupt keine Möglichkeit als Partei – beispielsweise als Organ, Bürger oder Parlament – beim Europäischen Gerichtshof vorstellig zu werden und die Überprüfung einer Maßnahme zu beantragen. Beim Prinzip der Mehrheitsentscheide hat man ein ganz anderes demokratisches Legitimationsprofil.

Das heißt?

Bei einstimmigen Entscheidungen kann man davon ausgehen, dass jeder Mitgliedsstaat, der in einer Maßnahme für etwas stimmt, sich wenigstens im Nachhinein in seinem nationalen Parlament dafür rechtfertigen muss. So gibt es eine gewisse nationalparlamentarische Kontrolle – wenn auch sehr theoretisch. Geht man zu Mehrheitsentscheiden über und installiert nicht parallel ein Mitentscheidungsrecht des Europäischen Parlaments, dann wären die Mitgliedsstaaten vermutlich nicht bereit, sich diese Zuständigkeiten zu teilen. Die effektive Kontrolle durch ein Parlament würde fehlen, Außen- und Sicherheitspolitik wäre nur noch Aufgabe der Exekutiven.

Gibt es dafür Auswege?

Man könnte kombinieren und sagen: Überall dort, wo mit Mehrheitsentscheidungen gearbeitet wird, entscheidet der Ministerrat mit dem Europäischen Parlament zusammen. Hier hört man von Nationalstaaten – auch von Deutschland - oft das Gegenargument, das Parlament verzögere alles weiter und so käme man überhaupt nicht zu Entscheidungen. Das ist empirisch jedoch gar nicht nachgewiesen. Im Binnenmarkt haben sich die Prozesse sogar beschleunigt, wenn das Parlament an Entscheidungen beteiligt war. Zumindest bei grundsätzlichen Entscheidungen des Europäischen Rates, die nicht besonders akut sind, ist dieses Argument daher nicht sehr schlagkräftig.

Bei welchen Ländern in der EU dürfte der Vorstoß auf Ablehnung stoßen?

Ein großer Hemmschuh ist übermorgen nicht mehr dabei: Großbritannien steigt aus der EU aus. Aber hinter den Briten verstecken sich weitere Mitgliedsstaaten. Es macht einen großen Unterschied, ob Ursula von der Leyen Mehrheitsentscheide auf der Münchener Sicherheitskonferenz fordert, oder ob man Deutschland im Rahmen einer Regierungskonferenz dazu auffordert, künftig mit Ja oder Nein zu stimmen. Denkt man das ganze Szenario nämlich weiter, hat Deutschland ein großes Problem. Im Grundgesetz ist verankert, dass das deutsche Militär eine Parlamentsarmee ist. Das Bundesverfassungsgericht wird darauf großen Wert legen. Spanien, Portugal und Italien sind in Sonntagsreden ebenfalls sehr schnell bereit, solche Forderungen gutzuheißen. Wird es aber konkreter, ziehen auch sie zurück und beharren auf eine Vielzahl an Notbremsen wie im Artikel 31 des EU-Vertrages. Die Staaten, denen ich die Forderung ehrlich abnehme, sind Länder, an denen sich kein Krieg und Frieden in der Welt entscheidet: Niederlande, Belgien, Luxemburg.

Eine Änderung des Abstimmungsverfahrens müsste einstimmig erfolgen. Wie sind die Erfolgsaussichten?

Das stimmt, das sieht der Artikel 48 des EU-Vertrages so vor. Wenn nur ein nationales Parlament sagt "Nein, wir wollen das nicht" wäre das Projekt vorerst gestorben. Man bräuchte vermutlich eine große Regierungskonferenz. Änderungen solcher Entscheidungsverfahren sind ja meistens Gegenstand größerer Pakete. Damit Mitgliedstaaten bereit sind, ihr Veto in der Außen- und Sicherheitspolitik abzugeben, wollen sie in einem anderen Bereich einen Zugewinn haben. Was man sich daher überlegen sollte, ist Folgendes: Im nächsten Jahr liegt der Vertrag von Lissabon genau zehn Jahre zurück. Es wäre angebracht, in einer Überprüfungskonferenz kollektiv zu überlegen, was funktioniert und was reformiert werden muss. Dann könnte man sich in einen Prozess mit Konvent und anschließender Regierungskonferenz begeben, in dem man den Vertrag überarbeitet. Auch das ist extrem risikobehaftet – manche Staaten machen am Ende Referenden und das verzögert alles um Jahre. Das kann aber keine Entschuldigung sein, eine Reform nicht anzugehen.

Die Schwierigkeit, einvernehmliche Entscheidungen zu treffen, ist ein Symptom der immer weiter auseinandergehenden Interessen, der Unterschiede in der wirtschaftlichen Leistungskraft der Mitgliedsländer und der jeweiligen innenpolitischen Zwänge. Welche anderen Maßnahmen sollte die EU noch ergreifen, um international ihrer Rolle gerecht zu werden?

Zunächst: Außenpolitik hat viele Facetten. Man muss also die Kirche im Dorf lassen und sich darauf zurückbesinnen, wo die EU instrumentell gut ausgestattet ist. Die nicht-kriegerische Auseinandersetzung findet im Wesentlichen in Fragen des Handels statt. In der Handels-, Entwicklungs-, Nachbarschafts-und Assoziierungspolitik hat die EU viele Kompetenzen und füllt diese auch vernünftig aus. In diesen Feldern wird die EU wirklich ernst genommen. Die Außenpolitik der EU ist über diese Wege extrem effektiv, leider wird sie nur selten als Außenpolitik wahrgenommen.

Trotzdem, wo muss sich etwas ändern?

Es ist fraglich, inwiefern die EU ihre außenpolitischen Interessen, Ziele und Werte mit militärischen Mitteln effektiv umsetzen kann. Drittstaaten nehmen es der EU nicht ab, dass sie in letzter Instanz auch mit militärischen Mitteln agieren kann. In der EU muss daher offen diskutiert werden: Die EU ist als Friedensprojekt und Friedensmacht gegründet worden, inwieweit gehört die Möglichkeit, militärisch etwas durchzusetzen überhaupt dazu? Zur Erfolgsgeschichte der EU zählt, dass sie eine zivile Veranstaltung ist. Bei der Sicherheits- und Verteidigungspolitik geht es aber am Ende darum, dass Soldaten andere Soldaten erschießen und in dieses Szenario darf kein Staat hereingezwungen werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir im deutschen Parlament eine Mehrheit für eine Art europäisches militärisches Generalstabskommando bekämen, was gegen den Willen des deutschen Bundestages und unabhängig von der Nato entscheiden könnte, dass beispielsweise 1.000 Soldaten in einen Krieg geschickt werden. Das muss genau überlegt werden und hat eine andere Dimension als das "Sprechen mit einer Stimme".

Über Prof. Dr. Andreas Maurer: Prof. Dr. Andreas Maurer ist Politikwissenschaftler und EU-Integrationsforscher. Er ist Inhaber des "Jean Monnet Lehrstuhls für europäische Integrationforschung" an der Universität Innsbruck und Senior Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem die Rolle und Funktionen des Europäischen Parlaments und des Ministerrates der EU, die Handelspolitik der EU sowie die Europapolitik der Mitgliedstaaten.
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