Gelingt eine Lösung im völlig verfahrenen EU-Haushaltsstreit? Rafft sich die Gemeinschaft auf zu einem Kraftakt gegen die dramatische Rezession? Vor dem EU-Gipfel schauen alle auf Deutschland.
Der eine hat die Fäden in der Hand. Die andere soll die Strippen ziehen. Beim EU-Gipfel an diesem Freitag ist es eigentlich Ratspräsident Charles Michel, der einen Kompromiss zu den EU-Finanzen und das 750 Milliarden Euro schwere Corona-Hilfspaket anbahnen soll.
Doch zugleich schauen alle auf Bundeskanzlerin
Kompromissvorschlag soll bei EU-Gipfel diskutiert werden
Michel leitet als ständiger Präsident des Europäischen Rats die Sitzungen der EU-Staats- und Regierungschefs, und auf dem Tisch liegt jetzt sein Kompromissvorschlag. Die Eckpunkte: Er bleibt bei dem seit einigen Wochen diskutierten Plan zur wirtschaftlichen Erholung im Umfang von 750 Milliarden Euro, davon zwei Drittel als Zuschüsse, zusätzlich zu einem siebenjährigen Haushaltsplan von 1,074 Billionen Euro. "Dieser Vorschlag bietet eine starke Grundlage und politische Balance für unsere Diskussionen beim Gipfel", sagt Michel.
Doch sind alle wichtigen Details nach wie vor sehr umstritten. Und nach einem gescheiterten Haushaltsgipfel im Februar, bei dem Michel keine gute Figur machte, sind nicht mehr alle begeistert vom belgischen Ratschef.
Auch deshalb die hohe Erwartung an Merkel. Die Kanzlerin steht nicht nur für das wirtschaftsstärkste EU-Land und den größten Beitragszahler zum EU-Haushalt. Deutschland hat zudem seit 1. Juli für ein halbes Jahr den Vorsitz der 27 Staaten und damit die Rolle des Vermittlers. Das komme genau rechtzeitig, sagt der liberale Europaabgeordnete
Vorgeschlagenes Finanzpaket wäre große Neuerung
Gelänge bei dem bis Samstag angesetzten Gipfel eine Einigung auf ein Finanzpaket, käme für die EU etwas völlig Neues, so sieht das nicht nur Verhofstadt. Erstmals würden für das Corona-Krisenpaket im großen Stil Schulden im Namen der EU aufgenommen und gemeinsam über Jahrzehnte getilgt.
In völlig neuem Maßstab würde Geld zwischen den EU-Staaten umverteilt - auch aus deutschen Kassen hin zu den angeschlagenen Krisenstaaten im Süden. Und die EU erhielte eine neue Finanzierungssäule, sei es eine Plastikabgabe, Klimazölle oder Abgaben für Digitalkonzerne.
"Dieser Wiederaufbauplan könnte ein Wendepunkt werden", sagt der Grünen-Fraktionschef im Europaparlament, Philippe Lamberts. "Es könnte ein Prototyp werden für eine Haushaltsunion", für eine engere, stärkere EU. Dass Merkel im Mai zusammen mit Frankreich ein 500 Milliarden Euro schweres Corona-Aufbaupaket vorgeschlagen hat und nun eisern zur Idee der Umverteilung steht, lobt Lamberts ausdrücklich. "Sie hat eine Kehrtwende gemacht. Das zeigt Führungskraft."
Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederlande stellen sich quer
Diese Kehrtwende könnte den Weg zur Einigung bahnen - so sehen es die Befürworter. Noch vor wenigen Monaten versuchte auch Deutschland, die Ausgaben auf EU-Ebene zu deckeln und die eigene finanzielle Belastung so gering wie möglich zu halten.
Erst in der Coronakrise schwenkte Merkel um, denn zeitweise sah es so aus, als könnte der Binnenmarkt oder sogar die ganze EU auseinanderbrechen. Es liege auch im Interesse Deutschlands als Exportnation, dass die EU-Partner wieder auf die Beine kämen, sagt Merkel heute.
Nur haben eben nicht alle diesen Schwenk mitgemacht. Den "Sparsamen Vier" - Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederlande - ist er nicht geheuer, gerade weil sich so etwas fundamental Neues anbahnt. Keine Schuldenunion, ruft der österreichische Kanzler Sebastian Kurz. Geld nur gegen Bedingungen, betont der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte. Lieber Hilfen als Kredit und nicht als Zuschuss, sagen alle vier der "Sparsamen Vier".
Ihnen ist Ratschef Michel in seinem Vorschlag im Kleingedruckten entgegengekommen. Die EU-Staaten sollen über die Verteilung der Gelder Kontrolle bekommen, stärker als im ursprünglichen Konzept der EU-Kommission. Die Verteilkriterien werden geändert, die Rückzahlung der gemeinsamen Schulden früher begonnen und die Gegenfinanzierung durch die neuen Einnahmen gestärkt.
Vor allem sollen Beitragsrabatte die Lasten der Nettozahler - das sind die EU-Staaten, die mehr in den Haushalt einzahlen als sie herausbekommen - in Grenzen halten. Davon profitieren die Sparsamen Vier, aber auch Deutschland.
Merkel bleibt vorsichtig
Ob das reicht, ist nicht klar. Merkel jedenfalls bleibt vorsichtig. "Ich weiß nicht, ob wir zu einer Einigung kommen", warnte sie Anfang der Woche. "Es ist noch nichts sicher." Auch Michel sagt: "Ich weiß, dass die Verhandlungen schwierig werden." Nicht jeder traut dem Belgier zu, den Knoten zu durchschlagen. "Nicht, wenn es so läuft, wie im Februar", raunt ein Brüsseler Insider. Aber Diplomaten sagen auch, Michel mache seine Sache jetzt besser, sogar richtig gut.
Janis Emmanouilidis vom European Policy Centre in Brüssel sagt es so: "Es ist Sache des Präsidenten des Europäischen Rats, einen Kompromiss herbeizuführen." Aber da so viel auf dem Spiel stehe, werde Merkel als erfahrenste Regierungschefin zusammen mit Paris Druck machen.
Für einen Durchbruch spricht, dass sich die EU ein Scheitern nicht leisten kann. Zu verheerend wäre das Signal, sich im Angesicht einer historischen Krise mit beispiellosen 8,3 Prozent Wirtschaftseinbruch im Kleinklein zu verheddern. Aber das heißt natürlich nicht, dass der Deal im ersten Anlauf bis Samstagabend steht. Der Gipfel könnte sich ziehen. Oder vertagt werden. Oder platzen. © dpa
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