Am 3. Oktober 1990 wurden Ost- und Westdeutschland wiedervereinigt. Ist das Land seitdem zusammengewachsen? Oder wachsen eher die Ungleichheiten? Über Ost-West-Unterschiede und ein Stadt-Land-Gefälle haben wir mit dem Politikwissenschaftler Everhard Holtmann gesprochen.

Ein Interview

"Für mich gibt es nicht den Osten" und "Wir haben nur noch Struktur-Förderprogramme für ganz Deutschland" - der Ostbeauftragte Carsten Schneider (SPD) lobte kürzlich bei der Veröffentlichung des Jahresberichts zum Stand der Deutschen Einheit die Fortschritte. Doch neben der Angleichung der Rentenwerte in Ost und West und der Erhöhung des Mindestlohns gibt es 33 Jahre nach der Vereinigung auch noch einiges zu tun.

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Der Durchschnittsverdienst ist im Osten nach wie vor niedriger als im Westen und auch Spitzenpositionen sind oft noch einseitig besetzt. Obwohl rund 20 Prozent der Bevölkerung gebürtig aus Ostdeutschland stammen, sitzen Ostdeutsche weiterhin nur selten in den Chefetagen: Nur 13,9 Prozent etwa haben eine Führungsposition in oberen und obersten Bundesbehörden. Ohne Berlin sind es sogar nur 7,4 Prozent, wie aus einer weiteren Erhebung des Ostbeauftragten hervorgeht.

"Die Unterschiede zwischen Ost und West sind wie einbetoniert", beklagte auch Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa) - und schrieb der Ampel ein "Mangelhaft" ins Zeugnis. Über diese Ungleichheiten, aber auch bereits gemachte Fortschritte sprachen wir mit Everhard Holtmann. Der Politikwissenschaftler erhob für den Einheitsbericht in einem "Deutschlandmonitor" umfangreiche Daten, um nicht nur Ost-West-Unterschiede, sondern auch das Stadt-Land-Gefälle zu beleuchten. Letzteres, so Holtmann, müsse die Politik viel mehr im Blick haben.

Herr Holtmann, wie nah sind wir an einer wirklichen Einheit in Deutschland?

Everhard Holtmann: Die Vorstellung, es gäbe eine Einheit als endgültigen Zustand, so als ob man den Schlussstrich ziehen kann, geht meines Erachtens fehl. Realistischer ist die Vorstellung eines andauernden und wahrscheinlich auch niemals abgeschlossenen Prozesses. In dessen Verlauf werden sowohl Umbrüche und Enttäuschungen verarbeitet als auch neue Chancen eröffnet. Diese Dynamik mit ihren Zumutungen und Offenheiten betrifft die Bevölkerung auch im Westen, vor allem aber im Osten. Seit Längerem sieht eine gesamtdeutsche Mehrheit mehr Vor- als Nachteile der Wiedervereinigung.

Wo haben sich West und Ost angenähert und wo noch nicht?

Die Rentenangleichung wurde inzwischen vollzogen. Das ist insbesondere für Ostdeutschland wichtig, weil dort die Rentenfrage jahrzehntelang Gefühle von Benachteiligung nährte. Auf der anderen Seite gibt es nach wie vor Herausforderungen. In Ostdeutschland gibt es gerade in den kleinen und mittelgroßen Städten eine vergleichsweise kritischere Einschätzung der Lebensbedingungen, auch der Lebensqualität, als in den großen Städten. Das mag unter anderem damit zusammenhängen, dass in Gemeinden dieser mittleren Größenordnung die sozialen Beziehungen häufiger anonym sind und folglich sozialen Zusammenhalt weniger festigen. In Westdeutschland wird in der Problemskala der Fachkräftemangel ganz oben angesiedelt. In Ostdeutschland sind dies die Folgen der Abwanderung. Auch wenn der Saldo der Wanderungsbewegungen inzwischen ausgeglichen ist, sind die Folgen für einen kleinen Teil der jüngeren Generationen noch spürbar.

Wohnsituation und Kinderbetreuung sind im Osten besser

In welchen Bereichen ist der Osten Spitze?

Genannt wird von Befragten die Wohnsituation sowie die Leistungsangebote bei Kinderbetreuung und Pflege. Mit der Einschränkung, dass auf dem Land in Ostdeutschland der Fachärztemangel spürbarer ist als im Westen.

Und im Westen?

In Westdeutschland werden in einigen Branchen noch immer höhere Löhne gezahlt. Das sorgt für entsprechende Unzufriedenheit im Osten, weil die Lohnschere noch immer nicht vollständig geschlossen ist. Wohl deshalb treten in letzter Zeit wieder vermehrt Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Gewerkschaften ein, sind offenbar auch konfliktbereiter als in der Vergangenheit.

Nach Daten aus dem Jahresbericht lag der durchschnittliche Jahresbruttolohn im Osten im Jahr 2022 mit 34.841 Euro etwa bei 86 Prozent des Westniveaus. Zugleich ist die Wirtschaftskraft je Einwohner geringer: Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt bei 79 Prozent des Wertes im Westen.

Beides ist nach wie vor ein strukturelles Problem und entzieht sich direkten politischen Interventionen. In Ostdeutschland gibt es außerdem mehr ländliche Regionen als in Westdeutschland. Strukturschwache ostdeutsche Landkreise weisen gegenüber den strukturschwächsten westdeutschen Landkreisen signifikant niedrigere Durchschnittseinkommen aus.

"In den östlichen Flächenländern ist die Schulabbrecherquote nach wie vor höher als im Westen."

In welchen Bereichen gibt es noch Nachholbedarf?

Etwa im Bereich der Bildung: In den östlichen Flächenländern ist die Schulabbrecherquote nach wie vor höher als im Westen. Langfristig wird sich das als struktureller Nachteil auswirken, weil die Fachkräfte, die in den Westen gehen, schwerer ersetzt werden können. Denn die Qualifikation zur Fachkraft hängt ja von einer abgeschlossenen Ausbildung ab.

Welche Rezepte braucht es, um diese Ungleichheiten zwischen Ost und West sowie Stadt und Land aufzuheben?

Es gibt bereits etliche Ideen, etwa Anreizprogramme. Beispielsweise erhalten angehende Fachärzte Prämien, wenn sie sich dazu verpflichten, einige Zeit in ostdeutschen Landgemeinden eine vakante Praxis zu übernehmen. Die Politik sollte allgemein eine möglichst treffsichere regionale Strukturförderpolitik auflegen, die auch das flache Land zum Adressaten hat. Infrastrukturlücken müssen kreativ und fantasievoll ausgefüllt werden, beispielsweise durch mehr variable Möglichkeiten im ÖPNV, dessen Taktzeiten auf dem Land unbefriedigend sind.

Was halten Sie von einem Rückkehrerbonus, also einer Geldprämie, um für mehr Zuzug nach Ostdeutschland zu sorgen?

Angesichts knapper öffentlicher Kassen halte ich das für nicht prioritär. Zuzug kann meines Erachtens eher über Lohnanreize, Wohnangebote und andere Anreize erreicht werden.

Gegen Fachkräftemangel: Gesteuerte, unbürokratische Migration

Ohne Zuzug keine Fachkräfte – ist Zuwanderung die Lösung?

Gesteuerte Migration, die möglichst unbürokratisch die Behebung des Fachkräftemangels im Blick hat, wird unverzichtbar sein. Voraussetzung ist sicherlich auch eine tolerante und weltoffene Willkommenskultur.

Zahlen zu Kaufkraft, Erbschaften und Vermögen, bei denen es weiterhin große Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland gibt, kommen im Bericht nicht vor. Warum nicht?

Für die Beantwortung dieser Frage sind die Autorinnen und Autoren des Berichts zuständig. Erbschaften und Vermögen sind immerhin in anderen Berichten ein Thema gewesen. Hier ist beispielsweise der Armuts- und Reichtumsbericht und andere Studien über Ungleichheit zu nennen.

33 Jahre nach der Wiedervereinigung: Wann wird es überall in Deutschland "blühende Landschaften" geben?

Ost- und Westdeutschland werden ihre Verschiedenheit behalten und das ist auch zu begrüßen. Gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen, wird indes auch in Zukunft eine vorrangige Aufgabe sein.

Zur Person:

  • Everhard Holtmann (Jahrgang 1946) ist ein deutscher Politikwissenschaftler und emeritierter Professor der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seit 2012 ist er Forschungsdirektor am Zentrum für Sozialforschung Halle e. V. Im Auftrag der Kommission "30 Jahre friedliche Revolution und Deutsche Einheit" befasste sich Holtmann mit der Auswertung der deutschlandweiten Meinungsumfrage zum Stand der deutschen Einheit. Für den Einheitsbericht 2023 verfasste er den Deutschlandmonitor.
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