Durch den Krieg zwischen Israel und der Hamas ist der Konflikt zwischen China und Taiwan in den Hintergrund der Aufmerksamkeit gerückt. Doch die Lage rund um den von Peking als Teil der Volksrepublik beanspruchten Inselstaat ist beileibe nicht ruhig. Eine Expertin ordnet die Situation ein.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Thomas Fritz sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Immer wieder dringen chinesische Schiffe und Flugzeuge in den von Taiwan beanspruchten Luft- und Seeraum ein. In Kalenderwoche 44 registrierte das taiwanesische Verteidigungsministerium binnen 24 Stunden 43 Flugzeuge und sieben Kriegsschiffe aus China. Mitte September flogen sogar mehr als 100 chinesische Kampfjets im taiwanesischen Luftraum. "Das sind natürlich Muskelspiele. Da ist aber auch viel Symbolik im Spiel", sagt Dr. Josie-Marie Perkuhn, Politikwissenschaftlerin im Fach Sinologie an der Universität Trier, unserer Redaktion.

Mehr aktuelle News

Ende September weihte Taiwan den ersten U-Boot-Prototyp aus landeseigener Produktion ein – was Peking prompt scharf kritisierte. "China will verhindern, dass vor der Präsidentschaftswahl im Januar 2024 irgendwelche Schritte Richtung Unabhängigkeit gegangen werden. Es will zeigen, dass es die Möglichkeit hat, dagegen vorzugehen und im Zweifel auch zu militärischen Drohungen oder Gewalt greifen würde", sagt Perkuhn.

China-Jets kein großes Thema in Taiwan

Das Kuriose: Die 100 Jets im eigenen Luftraum waren laut Perkuhn bei ihrem letzten Taiwan-Besuch vor wenigen Wochen gar kein Thema. "Dazu fand kaum eine Debatte in den Mainstreammedien statt. Das hat auch mit der Resilienz zu tun, die diese Gesellschaft einfach haben muss. Und die hat eher noch zugenommen."

Innenpolitische Streitigkeiten standen zuletzt im Fokus. Präsidentin Tsai Ing-wen hatte vor zwei Jahren den Nationalfeiertag in "Taiwan National Day" umbenannt. Ex-Präsident Ma Ying-jeou, der für ein kooperatives Auskommen mit China plädiert, sagte seine Teilnahme an den diesjährigen Feierlichkeiten am 10. Oktober ab. Die Positionierung der politischen Bewerber zu China haben im Wahlkampf bisher Sachthemen überlagert.

In tiefer gehenden Gesprächen hat Perkuhn beobachtet, dass einigen Taiwanesen die zunehmenden verbalen und militärischen Muskelspiele Pekings durchaus Sorgen bereiten. Bei Kooperationsveranstaltungen zwischen Universitäten der beiden Länder sei die Stimmung zum Teil mulmiger geworden, heißt es aus ihrem Umfeld. "Umso wichtiger ist es", sagt sie, "dass die Gesprächskanäle auch dort offen gehalten beziehungweise wieder geöffnet werden."

Vorbereitungen für den Kriegsfall nehmen zu

Die Sorgen rühren aus dem Verhalten der Chinesen: Der übermächtige große Bruder übt vermehrt Seelandeoperationen, hat die militärische Infrastruktur an der Küste zu Taiwan ausgebaut. Die Lebensmittelvorräte werden vergrößert und das Land stieß US-Staatsanleihen ab, um sich von den USA unabhängiger zu machen.

Das "Handelsblatt" schrieb kürzlich, es sei unstrittig, dass sich China auf einen militärischen Konflikt vorbereitet. Sieht Expertin Perkuhn das auch so? "Ja, das Land will vorbereitet sein. Gleichzeitig nehmen auch in Taiwan mit Bürgerwehren, mit mehr Angeboten zur medizinischen Erstversorgung, mit Verhaltensschulungen im Kriegsfall präventive Maßnahmen zu. Auch da gibt es eine Vorbereitung."

Will China von innenpolitischen Problemen ablenken?

Perkuhn sieht dennoch nicht, dass alles direkt auf einen Krieg zusteuert, dass der Worst Case unvermeidlich ist. Gegen dieses Szenario spricht in ihren Augen vor allem eines: Es gibt gegenwärtig für Peking keinen strategischen Vorteil durch einen Taiwan-Krieg. "Die Verluste für China wären gegenwärtig zu hoch, denn China schwächelt wirtschaftlich und hat noch immer unter den Folgen der Pandemie zu leiden."

Hinzu kommen die aktuellen Veränderungen in der politischen Führungsriege: Erst der Skandal um den bereits abgesetzten Außenminister Qin Gang und dann die gerüchteumwobene Entlassung des Verteidigungsministers Li Shangfu. Beide galten als Vertraute Xis und schieden binnen eines Jahres aus dem Amt. Die erhöhte Flugpräsenz Pekings in der Taiwan-Meerenge könnte demnach auch dem Ablenken von innenpolitischen Problemen geschuldet sein, sagt Perkuhn.

Vor dem Hintergrund des unerwarteten Angriffs Russlands auf die Ukraine im Frühjahr 2022 würde Perkuhn einen Angriff Chinas aber nicht zu 100 Prozent ausschließen.

Ein Grund: Die Ablenkung der Weltgemeinschaft durch die jüngsten Kriegsfronten in Armenien und Israel hat Taiwans Lage eher nicht verbessert. Entscheidend könnte auch sein, welche Würfel in der kurz- bis mittelfristigen Zukunft zu Gunsten Pekings fallen. Wie geht die Wahl in Taiwan im Januar aus? Wird dort ein eher chinafreundlicher Politiker gewählt oder nicht? Wird es in den USA durch den Wahlkampf ein Machtvakuum geben? Wer wird nächster US-Präsident? Und sind die Wetterbedingungen ideal? Wenn der chinesische Staatspräsident Xi Jinping denkt, dass all diese Punkte zu Chinas Gunsten ausfallen, wäre ein Angriff in den Augen Perkuhns denkbar.

Lesen Sie auch:

Zusammenfassend hält es die Politikwissenschaftlerin aber für wahrscheinlicher, dass Peking jede andere Lösung der Taiwan-Frage einer militärischen vorzieht. Etwa über Cyberangriffe, Desinformationen oder die Blockade von Energielieferungen. Denn auch die Außenwirkung, das Image, spiele eine Rolle – gerade gegenüber dem globalen Süden. Die Stärke zu haben, Taiwan in einer kriegerischen Auseinandersetzung zu schlagen, aber sie nicht zu nutzen, "damit würde China demonstrieren: Wir sind nicht wie die USA. Wir sind eine Alternative."

Über die Gesprächspartnerin:

  • Dr. Josie-Marie Perkuhn ist Politikwissenschaftlerin im Fach Sinologie an der Universität Trier. Sie leitet das Verbundforschungsprojekt "Taiwan als Pionier" (TAP). Zu ihren Forschungsinteressen zählen die Innen- und Außenpolitik Chinas und Taiwans, Chinas außenpolitische Rolle im 21. Jahrhundert sowie Chinas internationales Integrations- und Kooperationsverhalten.

Verwendete Quellen:

Tier hatte sich sogar gehäutet: Arzt entdeckt Spinne im Ohr von Patientin

Vier Tage lang hörte eine 64-Jährige aus Taiwan ein merkwürdiges Klicken, dann ließ die Frau ihr linkes Ohr untersuchen. Der Arzt machte eine haarsträubende Entdeckung.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.