Die Nachwendejahre ab 1990 sind durch Gewalt und Rassismus mit Dutzenden Todesopfern bis Ende des Jahrzehnts geprägt, die viele vor allem mit den neuen Bundesländern verbinden. Doch auch in der BRD sind rassistische Gewalttaten keine Seltenheit.

Ein Interview

Die Historikerin Franka Maubach spricht im Interview mit unserer Redaktion über die Vorgeschichte der "Baseballschlägerjahre", das rechte Terrorjahr 1980 und darüber, warum die Mordanschläge in der BRD vor 1990 weitgehend vergessen sind.

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Frau Maubach, Sie sagen, dass der Rassismus nach der Wiedervereinigung nicht aus dem Osten in den Westen gekommen sei. Er habe in der Bundesrepublik eine eigenständige Tradition.

Franka Maubach: Genau. Das ist in der Geschichtswissenschaft inzwischen Konsens. Es gab nie nur den braunen Osten, wir müssen mindestens ebenso sehr auf Westdeutschland schauen. Dort nahmen seit 1980 rechtsextremistische Gewalttaten mit Todesopfern stark zu – wenn die Zahlen auch niedriger liegen als in den Jahren nach der Vereinigung.

Franka Maubach vertritt derzeit die Professur für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt Nationalsozialismus an der HU Berlin. © Fotoatelier Rietz/Tegel

Wie rassistisch, wie antisemitisch war die Bundesrepublik in den 80ern?

Damals hat sich vor allem ein Rassismus gegen türkeistämmige Menschen ausgebreitet, die als "Gastarbeiter" und "Gastarbeiterinnen" gekommen waren. Damit gingen eine zunehmende Islamfeindlichkeit und kulturelle Vorurteile einher. Die türkeistämmige Community wurde zum Synonym für den "Ausländer" an sich und geriet besonders ins Visier. Es gab einen Alltagsrassismus, der weit in die Gesellschaft hineinreichte. Auf den Schulhöfen, in den Familien, in den Kneipen. Es gab rassistische Slogans an Häuserwänden wie "Türken raus!", die man verharmlost, wenn man sie als "Schmierereien" bezeichnet. Geläufig waren aber auch sogenannte Türkenwitze. Selbst vor der Politik und linksliberalen Medien wie dem Spiegel machte das nicht Halt.

Inwiefern?

Man muss sich nur zeitgenössische Reden anhören oder Artikel lesen. Eine sprachliche Sensibilität, wie es sie heute gibt, fehlte damals. Aber wichtig ist es zu betonen, dass es Antisemitismus und Rassismus auch schon vorher in der Gesellschaft gab. Jüdische Friedhöfe wurden seit der unmittelbaren Nachkriegszeit geschändet - eine Kontinuität bis heute.

Woran liegt es, dass Städte wie Mölln, Solingen, Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda, in denen in den frühen 90ern in Ost- wie Westdeutschland rassistische Morde oder Pogrome stattfanden, vielen ein Begriff sind, aber die Taten aus den 80er-Jahren fast vergessen sind?

In der Geschichtswissenschaft spielten die Themen Rassismus, Antisemitismus, rechte Gewalt und Rechtsterrorismus damals eine marginale Rolle. Das hat sich erst in den Jahren nach Gründung der AfD 2013 und ihrem Bundestagseinzug 2017 merklich verändert. Die Sensibilität für Rassismus und die öffentliche Aufmerksamkeit für rechte Gewalt waren in den 80ern viel weniger ausgeprägt. Schauen Sie sich Rostock-Lichtenhagen an – das war im Sommer 1992 ein nationales und internationales Medienereignis. In den 80ern gab es so etwas nach den Brandanschlägen auf Wohnhäuser in Duisburg 1984 und Schwandorf 1988 nicht. Deswegen sind uns die Bilder und die Ortsnamen nicht so geläufig. Außerdem war Duisburg ein komplizierter Fall.

Warum?

Die Täterin – eine deutlich rassistisch ideologisierte Pyromanin – gestand die Tat erst nach einem weiteren Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim in den 90er-Jahren.

"Schon das 'Terrorjahr' 1980 war ein Einschnitt."

Franka Maubach

Die Politik hat oft mit Abwehrhaltung auf die Anschläge reagiert. In Duisburg hat sich der damalige SPD-Bürgermeister gegen ein rechtsextremes Tatmotiv verwehrt, obwohl das Haus überwiegend von Türkeideutschen bewohnt war und sieben von ihnen ums Leben kamen. War das typisch für die damalige Zeit?

Dass Kommunen solche Taten in ihren Städten kleinreden, als Randphänomen oder Imageproblem darstellen oder als etwas, was von außen gekommen ist, ist charakteristisch auch für spätere Ereignisse.

Welche Anschläge würden Sie in den 80er-Jahren als Zäsur bewerten?

Schon das "Terrorjahr" 1980 war ein Einschnitt. Damals kam es in Hamburg zum ersten bekannten Anschlag auf ein Asylsuchenden-Heim durch die Deutschen Aktionsgruppen. Dabei kamen zwei vietnamesische Boat People zu Tode, Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân. Heute sind uns Anschläge auf Heime von Asylsuchenden, könnte man sagen, schrecklich geläufig. Erst 1980 aber prägte sich diese Form der Gewalt aus – als die Zahlen an Asylsuchenden stiegen und die "Asyldebatte" begann.

Gab es weitere Zäsur-Taten?

Ja. Wenig später verübte Gundolf Köhler, Mitglied der Wehrsportgruppe Hoffmann, das Oktoberfestattentat: 13 Tote und Hunderte Verletzte. Ende des Jahres ermordete ein Rechtsextremist aus antisemitischen Motiven den Rabbiner Shlomo Lewin und dessen Lebensgefährtin Frida Poeschke. 1981 prügelt eine Gruppe Skinheads Seydi Battal Koparan zu Tode. Der erste bekannte türkische Migrant, der in der Bundesrepublik Opfer deutscher Rechtsextremisten wurde. Und dann war natürlich Duisburg 1984 eine Zäsur, der erste heute bekannte tödliche Brandanschlag auf ein vorwiegend von Migranten bewohntes Wohnhaus.

Wie viele Menschen starben in den 80er-Jahren in der Bundesrepublik durch Rechtsextremisten?

Eine genaue Zahl kann ich nicht nennen, Zählungen gehen von etwa 50 Opfern aus. Es wird aber eine Dunkelziffer geben. Damals fehlte eine genaue staatliche Statistik. Übrigens finde ich es erschreckend, dass es bis heute Bundesländer gibt, die keine Zahlen an den Bund gemeldet haben. Rheinland-Pfalz gehört dazu, obwohl es dort nachweislich Todesopfer rechter Gewalt gab. Frank Bönisch zum Beispiel, ein alternativer, wohnungsloser Mann, wurde 1992 von einem rechten Amokläufer erschossen, zeitgleich zum Pogrom in Rostock-Lichtenhagen. Die Kategorie der "politisch motivierten Kriminalität" gibt es in Deutschland übrigens erst seit 2001.

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Warum nahmen seit Anfang der 80er-Jahre rechte Gewalttaten so stark zu?

Dafür gibt es verschiedene Faktoren. Im Untergrund haben sich nach dem Niedergang der NPD, die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre bei Landtagswahlen Erfolge feierte, aber 1969 am Einzug in den Bundestag scheiterte, gewaltbereite rechte Strukturen herausgebildet. Sie wurden ein Jahrzehnt später offenbar, denken Sie an die Wehrsportgruppen oder die Deutschen Aktionsgruppen, die im Terrorjahr 1980 für einige Taten verantwortlich waren. Dann kam eine Asyl- und Ausländerdebatte zum ersten Mal verschärft auf die Tagesordnung.

Was war der Grund dafür?

Anfang der 80er-Jahre gab es erstmals mehr als 100.000 Asylbewerber im Jahr in der BRD. Die Asylsuchenden, vorher meist Flüchtlinge aus dem kommunistischen Machtbereich, kamen nun auch aus anderen Ländern und Kulturkreisen. Asyl wurde in der bundesdeutschen Gesellschaft sichtbarer und medial wie politisch zum Problem erklärt. Damals entstand das noch heute wirksame Bild des "Scheinasylanten", der angeblich nur aus wirtschaftlichen Gründen kommt und kein Recht auf Asyl hat. Die rechten Republikaner haben dieses Bild für ihren Wahlkampf genutzt, denken Sie an das Plakat vom "vollen Boot" Deutschland. Gleichzeitig wurde versucht, allerdings mit wenig Erfolg, die Zahl der türkeistämmigen Arbeitsmigranten zu drücken, zum Beispiel, indem ihnen bei Rückkehr ins Herkunftsland Prämien ausgezahlt wurden – eine staatlich forcierte Rückkehrförderung. All dies vor dem Hintergrund einer wirtschaftlichen Krise, steigender Arbeitslosigkeit, die Ende 1982 erstmals die Zwei-Millionen-Grenze überschritt. Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus profitieren von Krisen.

Wie gingen die Behörden mit den Opfern der Mordanschläge um?

Ich habe mich intensiver mit dem Anschlag auf die vietnamesischen Boat People 1980 in Hamburg beschäftigt. Eine Sensibilität den Angehörigen oder den Überlebenden gegenüber gab es damals nicht. In dem Heim wurden die anderen Vietnamesen überhaupt nicht informiert, dass es einen Terroranschlag gegeben hat. Es gab keine Opferbetreuung, schon gar nicht institutionalisiert. Da hat sich heute einiges getan – auch wenn es immer noch nicht reicht.

"Ein stärkeres Gedenken an die Opfer rechter Gewalt wäre wünschenswert."

Franka Maubach

Wie sah es in der DDR aus, was rassistische Gewalt betrifft?

Die Staatspartei SED verharmloste sie als Taten jugendlicher Rowdys, die vermeintlich vom imperialistischen Westen beeinflusst waren. Der Faschismus galt offiziell ja schon Anfang der 50er-Jahre als ausgerottet. Nichtsdestotrotz gab es auch dort durch die zunehmende Anwerbung außereuropäischer Arbeitsmigranten aus Kuba, Vietnam oder Mosambik eine Zunahme des Rassismus.

Mit welchen Folgen?

Die ersten bekannten pogromartigen Ausschreitungen fanden 1975 in Erfurt statt, als Algerier durch die Straßen gehetzt wurden. 1979 wurden in Merseburg zwei Kubaner ermordet. In den 80er-Jahren entwickelte sich fast analog zum Westen auch in der DDR eine rechte Skinheadszene. In einem kleinen Ort in Sachsen wurde sogar, das hat gerade der junge Forscher Johannes Schütz herausgefunden, noch vor der Wende ein Heim von mosambikanischen Vertragsarbeitern wegen der permanenten Anfeindungen geräumt. Der Staat gab nach – und öffnete damit Räume, wo Rechte sich ausbreiten konnten. Anschläge auf jüdische Friedhöfe gab es auch in der DDR durchgängig – da standen sich Bundesrepublik und DDR in nichts nach.

"Ich wäre eher skeptisch, dass es zu einer Politik der Wiedergutmachung kommt."

Franka Maubach

Was wünschen Sie sich mit Blick auf die rassistischen Morde in den 80er-Jahren in der Bundesrepublik?

Dass in der öffentlichen Diskussion diese Vorphasen der heutigen rechten Konjunkturphase viel stärker ins Bewusstsein rücken und wir nicht immer diese wichtige, aber auch etwas stereotype Frage stellen: Wird es wieder wie 1933? Denn damit wird die Zeit zwischen dem Ende der NS-Zeit und heute irgendwie ausgeklammert. Als habe es im Nachkriegsdeutschland keine rechte Gewalt, keinen Rechtsterrorismus, keine rechten Einstellungen gegeben. Durch die stärkere Beschäftigung mit dieser Zeit können wir viel darüber lernen, wie durch die AfD rechte Einstellungen normalisiert werden konnten. Zudem wäre ein stärkeres Gedenken an die Opfer rechter Gewalt wünschenswert – nicht nur an den Jahrestagen. Und auch eine bessere Einbeziehung der Opfer in die Erinnerungskultur.

Auch bei der Spezifik rassistischer Gewalt wünsche ich mir mehr Differenzierung. Die vietnamesischen Communitys in der Bundesrepublik und in der DDR haben eine ganz unterschiedliche Geschichte. Mit dem Begriff Rassismus wird zu viel über einen Kamm geschoren, wo genaues Hingucken nötig ist. Schließlich möchte ich betonen, dass andere Formen der Diskriminierung – gegen Sinti und Roma oder eben Antisemitismus – in den Konjunkturphasen rechter Gewalt immer vermehrt auftraten und auftreten. Verschiedene Formen der Diskriminierung sollten in ihrer Besonderheit begriffen werden, ohne sie gegeneinander auszuspielen.

Viele Überlebende und Hinterbliebene leiden darunter, dass tödliche Anschläge bis heute nicht staatlich anerkannt sind. Ist zu erwarten, dass da noch etwas passiert?

Das ist ein Knackpunkt. Entschädigung, Wiedergutmachung, staatliche Anerkennung – das ist für die Menschen eine unheimlich wichtige Frage. Ich vermute nicht, dass da noch viel Bewegung reinkommt. Da gibt es viele Widerstände. Ich wäre eher skeptisch, dass es zu einer Politik der Wiedergutmachung kommt.

Über die Gesprächspartnerin

  • Franka Maubach vertritt derzeit die Professur für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus an der HU Berlin.
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